- Politik
- Anhaltende Proteste gegen Perus Interimsregierung
Peru kommt nicht zur Ruhe
Drei Monate nach dem Sturz von Präsident Castillo hält die politische Krise an
Am Wochenende krachte es erneut: Bei schweren Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei sind mindestens 16 Menschen in der Stadt Juli in der Provinz Chucuito, etwa 880 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Lima, verletzt worden. Das teilte die Ombudsstelle des südamerikanischen Landes mit. Anschließend war eine Militärpatrouille auf dem Weg nach Juli von Demonstranten abgefangen und bedroht worden. Auf der Flucht sind dabei sechs Soldaten von einem Fluss mitgerissen worden. Ein Mitglied der Patrouille sei ertrunken, die übrigen fünf würden vermisst, erklärte ein Armeesprecher am Sonntag (Ortszeit).
Drei Monate ist es her, dass der ehemalige Grundschullehrer Pedro Castillo als Präsident Perus abgesetzt und inhaftiert wurde, nachdem er versucht hatte, den Kongress inmitten von politischen Streitigkeiten zwischen Regierung und Parlament aufzulösen. Seitdem kommt es in dem südamerikanischen Land zu meist friedlichen Protesten, die den Rücktritt von Castillos Nachfolgerin Dina Boluarte fordern und auf Neuwahlen drängen.
Die Proteste werden von Nationalpolizei und Armee mit brutaler Gewalt unterdrückt. Dabei wurden innerhalb von drei Monaten 60 Menschen getötet und mehrere Hundert verletzt, wie die Ombudsstelle Defensoria del Pueblo berichtet. Menschenrechtsorganisationen beklagen staatliche Repression und Tötungen durch gezielte Schüsse. Diese Taten sind offenbar rassistisch begründet, die Todesopfer sind häufig Indigene und Protestierende fernab der Hauptstadt Lima. Die Regierung diffamiert und kriminalisiert Demonstrant*innen, eine Lösung der Krise scheint nicht in Sicht.
Am 7. Dezember 2022 hatten Kongressabgeordnete einen Misstrauensantrag gegen Pedro Castillo stellen wollen, dies bereits zum dritten Mal in dessen Amtszeit und angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Kongress wenig aussichtsreich. Umso überraschender war, dass Castillo vor der Sitzung des Parlaments ankündigte, den Kongress aufzulösen, eine Notstandsregierung einzusetzen und Neuwahlen zu initiieren. Ein »Selbstputsch«, der scheiterte: Nur drei Stunden später war Castillo festgenommen, noch am selben Tag setzte ihn eine Kongressmehrheit ab und vereidigte die bisherige Vizepräsidentin Boluarte als Staatschefin.
Seitdem protestieren Zehntausende auf den Straßen, besonders entschlossen indigene Aymara und Arbeiter*innen in der Andenregion im Süden Perus. In Departamentos wie Ayacucho, Cusco und Puno, in denen die Menschen seit Jahren gegen Umweltzerstörungen, Vergiftungen und Ausbeutung durch den Bergbau kämpfen, blockieren sie Straßen, Grenzen, Flughäfen. Sie verlangen den Rücktritt der Präsidentin, unverzügliche Neuwahlen und eine neue Verfassung. Doch Boluarte und die Mehrheit der Abgeordneten im Kongress klammern sich an die Macht und lassen die Proteste blutig bekämpfen.
Besonders erschüttert dabei ein Ereignis: Am 9. Januar 2023 töteten Polizisten in der Stadt Juliaca im Departamento Puno bei Protesten 18 Menschen, mehr als 100 wurden verletzt. Videoaufnahmen durch Überwachungskameras und Mobiltelefone zeigen, wie Polizisten horizontal auf Menschen schießen. Unter den Todesopfern ist die 17 Jahre alte Studentin Yamileth Aroquipa Hancco, die ihren Vater zum Einkaufen begleitete; Marco Samillán, einem Medizinstudenten, wurde in den Rücken geschossen, als er Verwundeten half.
Der Nationale Koordinierungsausschuss für Menschenrechte (CNDDHH), ein Netzwerk aus 78 Menschenrechtsguppen in Peru, beklagt exzessive Gewaltanwendung, rechtswidrige Tötungen und das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen. Amnesty International berichtete nach einer Untersuchung, dass Armee und Nationalpolizei »wiederholt rechtswidrig tödliche Waffen abgefeuert« hätten. Dabei sei die Opferzahl unter der indigenen und kleinbäuerlichen Bevölkerung besonders hoch, was darauf schließen lasse, »dass die Behörden mit einer ausgeprägten rassistischen Voreingenommenheit handelten«.
Solche rassistische Gewalt ist in Peru nicht außergewöhnlich, sondern leider strukturell. »In den Anden geschehen die Massaker im Rhythmus der Jahreszeiten. Auf der Welt gibt es vier, in den Anden fünf: Frühling, Sommer, Herbst, Winter und Massaker«, schrieb der peruanische Schriftsteller Manuel Scorza 1977 in seinem Roman »Cantar de Agapito Robles«. Er fasste damit in Worte, wie durch die Geschichte hindurch bis heute in der rassistischen, klassistischen, vom Kolonialismus geprägten Gesellschaft Perus die indigene und afroperuanische Bevölkerung benachteiligt, herabgesetzt, getötet wird.
Die Gründe der aktuellen Proteste sitzen tief: Peru ist immer noch von strukturellem Rassismus geprägt, von extremer Armut und Benachteiligung, institutionalisierter Korruption und einer gewalttätigen neoliberalen Demokratie.
Inzwischen haben die Prosteste auch Lima erreicht. Die Wut vieler Menschen auf Dina Boluarte wird dadurch gesteigert, dass die Präsidentin sich selbst als Verteidigerin der Demokratie gegen eine angebliche Minderheit darstellt: Die Protestierenden seien von anderen Demonstrant*innen erschossen worden, erklärte sie, zwei Wochen nach dem Massaker in Juliaca attestiere sie der Nationalpolizei dort ein »tadelloses Verhalten«.
Ihren Rücktritt lehnt Boluarte trotz verheerender Umfrageergebnisse genauso ab wie die Mehrheit im Parlament vorgezogene Wahlen, Präsidentin und Abgeordnete könnten also bis zum Jahr 2026 im Amt bleiben. Boluarte ist die sechste Präsident*in innerhalb der vergangenen fünf Jahre in Peru, viele Menschen fühlen sich von einer korrupten politischen und wirtschaftlichen Elite in der Hauptstadt Lima nicht repräsentiert. Die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft macht eine Befriedung derzeit schwer vorstellbar.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.