Lange Liste der Versäumnisse

Die Corona-Pandemie zeigte die Unzulänglichkeiten der internationalen Gesundheitspolitik auf

Es ist der Abend des 11. März 2020. In Genf tritt der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, vor die Presse, die wissen will, was mit dem neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 denn nun auf die Welt zukommt. »Die WHO ist zutiefst besorgt über das alarmierende Ausmaß der Ausbreitung und der Schwere der Erkrankung sowie über das alarmierende Ausmaß der Untätigkeit«, sagt der frühere äthiopische Gesundheitsminister mit ernster Miene. »Wir sind daher zu der Einschätzung gelangt, dass Covid-19 als Pandemie bezeichnet werden kann.«

Mit dieser offiziellen Einstufung hätte die Stunde der Vereinten Nationen und ihrer Gesundheitsorganisation kommen müssen. Pandemie beschreibt die unkontrollierte Ausbreitung einer Infektionskrankheit über Ländergrenzen hinweg, was international koordinierte Reaktionen erforderlich macht. Doch schauten anfangs alle darauf, wie die WHO die Lage einschätzt, sorgte die Einstufung als Pandemie für das Gegenteil: Viele Staaten igelten sich ein, verordneten Maßnahmen, die anders als beim Nachbarn waren oder gar Staaten mit den verwundbarsten Gesundheitssystemen in Bedrängnis brachten. »Alle Länder müssen ein feines Gleichgewicht zwischen dem Schutz der Gesundheit, der Minimierung wirtschaftlicher und sozialer Störungen und der Achtung der Menschenrechte finden«, hatte Tedros am 11. März gemahnt, leider vergebens.

Tägliche, neu bestätigte Covid-19-Todesfälle

Sieben-Tage-Durchschnitt. Aufgrund unterschiedlicher Registrierung und Schwierigkeiten bei der Zuordnung der Todesursache kann die Zahl der bestätigten Todesfälle die tatsächliche Zahl nicht
ganz exakt wiedergeben.

Die WHO war ausgebootet. Dass das P-Wort zu Panik führen würde, hatte Tedros kommen sehen. Den Begriff sorglos zu verwenden, berge das Risiko, dass dies »Ängste und Stigmata unnötig verstärkt und die Systeme paralysiert«, hatte er noch wenige Tage vorher erklärt. Damit reagierte er auf Vorwürfe, die WHO handle zu zögerlich, aus Rücksicht auf den Großzahler China. Man hatte aber Ende Januar bereits die »Gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite« (PHEIC) ausgerufen. Dies bedeutet, dass betroffene Länder der UN-Organisation sämtliche Krankheitsfälle melden und erste Maßnahmen ergreifen sollen. Geht es hierbei um das Einfangen lokaler Ausbrüche, erklärt die WHO mit der Pandemie-Einstufung die Versuche der Behörden für gescheitert. Daher müssen weitergehende Strategien verfolgt werden. Dazu gehört eine breite Unterstützung für arme Länder, denen es an Ressourcen für angemessene Maßnahmen fehlt. Hilfsteams werden entsendet, Informationen, Materialien und Medikamente bereitgestellt.

Bei der Ebola-Krise war die WHO noch erfolgreich gewesen. Im August 2014 rief sie den PHEIC aus, die Seuche blieb auf Westafrika begrenzt, und eineinhalb Jahre später war auch das letzte Land ebolafrei. Der Erreger war weit tödlicher als Sars-CoV-2, breitete sich daher aber langsam aus. War die Staatengemeinschaft für einen solchen Fall einigermaßen gerüstet, zeigte Covid-19 die Unzulänglichkeiten auf, und zwar auf allen Ebenen: Erst verheimlichten die chinesischen Behörden Ende 2019 das Auftauchen des neuen Erregers, und als der dann exportiert wurde, hatten viele Länder besonders in Europa keinen Plan. Und dann reagierte auch die WHO zögerlich, etwa bei der Anerkennung des Übertragungsweges durch Aerosole samt der Empfehlung, Maske zu tragen. Jeweils wurde wichtige Zeit vertrödelt, das Virus nutzte dies aus und mutierte: Wie Forscher meinen, hatte erst die im Frühjahr 2020 vermutlich in Norditalien entstandene Variante B.1 Pandemiepotential.

Als die WHO erstmals von Pandemie sprach, hatte es etwa 118 000 Infektionen in 110 Ländern gegeben. 4200 Todesopfer waren verzeichnet. Für eine Eliminierung des Virus war es zu spät, es ging um die Eindämmung der Ausbreitung, doch auch die schlug fehl: Bis heute wurden offiziell 680 Millionen Infektionen und 6,8 Millionen Todesfälle registriert, wobei kein Landstrich verschont blieb. Experten zufolge könnte die Opferzahl auch bis zu dreimal so groß sein.

»Die erschütternde Zahl von Todesopfern ist sowohl eine tiefe Tragödie als auch ein massives globales Versagen auf mehreren Ebenen.« Zu diesem Ergebnis kommt eine vom britischen Magazin »Lancet« einberufene Kommission mit 40 Wissenschaftlern aus aller Welt und allen möglichen Fachrichtungen. In der Bewertung der internationalen Reaktion listen sie zehn Hauptversäumnisse auf: von Verzögerungen über mangelnde Koordinierung der Länder bei Bekämpfungsstrategien und Versorgung mit wichtigen Gütern bis hin zum Fehlen »rechtzeitiger, genauer und systematischer Daten« sowie dem Versäumnis, Desinformation zu bekämpfen. Auch indirekte Gesundheitsfolgen, etwa dass viele Menschen im globalen Süden durch Vernachlässigung anderer Krankheiten starben, und »das Fehlen globaler und nationaler Sicherheitsnetze zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen« bemängeln die Experten. Die UN-Ziele zu Armutsbekämpfung und Umweltschutz seien »um Jahre zurückgeworfen worden«. Das Positive beschränkt sich auf die rasche Entwicklung von Impfstoffen sowie auf wirtschaftliche Hilfen, die es aber nur in reichen Staaten gab.

Der WHO waren indes die Hände gebunden. Zunächst geriet sie zwischen die Fronten der zerstrittenen Großmächte USA und China, und Hauptzahler Washington verkündete unter Donald Trump den Austritt. Mühselig versuchte die chronisch unterfinanzierte UN-Organisation immer wieder Gelder einzuwerben. Wobei es aber auch an ungerechten Strukturen lag: Schutzbekleidung, Masken, Test-Kits, Atemgeräte, später auch Impfstoffe und Medikamente – zahlungskräftige Länder kauften den Markt leer. Die WHO hatte im April 2020 die Initiative Covax mitgegründet, die dafür sorgen sollte, dass weltweit die Gruppen, die die Vakzine am dringendsten benötigten, zuerst geimpft werden. Was weitgehend misslang: »Länder, die jetzt jüngere, gesunde Menschen impfen, deren Krankheitsrisiko gering ist, tun das auf Kosten von Menschenleben der Ärzte, der Alten und von Risikogruppen in anderen Ländern«, schimpfte Tedros im Frühjahr 2021 in einem der seltenen Momente, als ihm die Hutschnur riss. Die WHO als zwischenstaatliche Organisation kritisiert ihre Mitglieder sonst nicht.

Doch auch unter diesen gibt es die Einsicht, dass etwas gehörig schief lief. Im März 2021 warben Staats- und Regierungschefs aus zwei Dutzend Ländern von Fidschi bis Norwegen, von Südkorea bis Costa Rica für einen globalen Pandemievertrag. »Keine einzelne Regierung oder multilaterale Behörde kann diese Bedrohung allein angehen«, hieß es in dem Aufruf. »Gemeinsam müssen wir besser darauf vorbereitet sein, Pandemien auf hoch koordinierte Weise vorherzusagen, zu verhindern, zu erkennen, zu bewerten und effektiv darauf zu reagieren.« Seit März 2022 beraten die Staaten über die Details, wobei wichtige Mitglieder wie China, die USA und Russland strenge Vorgaben verhindern wollen. Im Entwurf geht es um verbindliche Zusammenarbeit und Transparenz, Entscheidungen auf rein wissenschaftlicher Basis sowie eine gerechtere Verteilung von Materialien und Medikamenten. Auch Passagen zum heißen Eisen der Patentrechte sind enthalten. Bis Mai 2024 soll der Vertrag beschlossen werden.

Einen Pandemievertrag fordern auch die »Lancet«-Forscher. Ihre Hauptbotschaft ist der Ruf nach »einer neuen Ära der multilateralen Zusammenarbeit auf der Grundlage starker UN-Institutionen«, um globale Notlagen künftig besser zu bewältigen. Die Liste der Vorschläge ist lang: Der WHO-Wissenschaftsrat soll erweitert werden und Erkenntnisse für globale Gesundheitsprioritäten erarbeiten. Der Kernhaushalt der WHO soll erheblich aufgestockt werden. Die G20-Länder sollen über zehn Jahre die Entwicklungs- und Produktionskapazitäten für Grundstoffe besonders in einkommensschwachen Regionen stärken. Ein neuer Globaler Fonds soll Mittel für Pandemievorsorge und -reaktion sowie Stärkung der Gesundheitssysteme in armen Ländern bereitstellen.

Demnach geht es um eine Neuaufstellung der internationalen Gesundheitspolitik, damit es bei der nächsten Pandemie anders läuft. Denn noch immer ist ein Versprechen von WHO-Chef Tedros vom März 2020 nicht eingelöst: »Wir sind gemeinsam dabei, um mit Ruhe das Richtige zu tun und die Bürger der Welt zu schützen. Es ist machbar.«

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