- Politik
- UNHCR
Erfolgreiche Überfahrt in die EU: Frage des Geldes
UN-Flüchtlingskommissar gibt EU-Staaten Tipps zur »Verhinderung gefährlicher Reisen« aus Libyen
Eigentlich ist es Aufgabe des Hohe Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) sicherzustellen, dass Schutzsuchende ihr Recht auf Asyl durchsetzen und eine sichere Zuflucht finden, nachdem sie vor Gewalt, Verfolgung, Krieg oder Katastrophen fliehen mussten. In Libyen scheint die Organisation dieses Ziel aber aus den Augen zu verlieren.
Dieser Eindruck entsteht bei der Lektüre einer Präsentation des UNHCR. Darin werden die EU-Mitgliedstaaten mit Informationen zur »Verhinderung gefährlicher Reisen« aus Libyen versorgt. Zugleich wird in dem Papier eine Verstärkung repressiver Maßnahmen angeregt. Um Menschenhandel und -schmuggel zu bekämpfen, solle etwa die Grenzagentur Frontex mehr Daten »mit relevanten Ländern in Afrika« teilen. Europäische Behörden müssten gemeinsame Ermittlungen »unter Einbeziehung libyscher Behörden« durchführen, heißt es weiter.
Das Dokument hat die britische Bürgerrechtsorganisation Statewatch online gestellt. Als mutmaßlichen Autor nennt sie den UNHCR-Sonderbeauftragten für die Mittelmeerregion, Vincent Cochetel. Die Präsentation fand demnach am 13. Januar in der Arbeitsgruppe zum »Mechanismus der operativen Koordinierung für die externe Dimension der Migration« (Mocadem) der EU-Mitgliedsstaaten statt. Sie wurde zur gemeinsamen Steuerung der EU-Migrationspolitik in Ländern von »besonderem Interesse« eingerichtet. Zu diesen Ländern gehören Libyen, Ägypten, Tunesien und Niger. Seit ihrer Gründung vor zwei Jahren gibt Mocadem regelmäßig Dossiers heraus. Diesen Papieren, die ebenfalls von Statewatch veröffentlicht werden, ist zu entnehmen: Wenn die afrikanischen Regierungen bei der EU-Migrationskontrolle helfen, erhalten sie dafür viele Millionen Euro und mit etwas Verhandlungsgeschick günstigere Bedingungen bei der Visavergabe oder für die Arbeitsmigration.
Die Zahlen, die das UNHCR in der EU-Sitzung präsentierte, haben es in sich. Demnach gab es im vergangenen Jahr 78 676 Seeabfahrten von Libyen aus, eine Steigerung von rund 13 Prozent gegenüber 2021. Mit 53 173 Bootsinsassen haben es viele Menschen nach Italien geschafft, einige Hundert auch nach Malta. Etwa ein Drittel der Boote wurde der Zählung zufolge von der libyschen Küstenwache abgefangen, was einem Rückgang von 23,5 Prozent entspricht.
Die meisten Geflüchteten, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, stammen derzeit aus Bangladesch, Ägypten und Syrien. Die Wahrscheinlichkeit für eine erfolgreiche Überfahrt liegt laut dem UNHCR bei im Schnitt 67 Prozent. Ob es die Menschen schaffen, ist dabei auch eine Frage des Geldes, heißt es in dem UNHCR-Dokument: 83,5 Prozent der Menschen aus Bangladesch erreichen demnach Italien oder Malta, für Personen aus Mali liegt die Quote hingegen nur bei 43 Prozent. Das UNHCR bezeichnet dies als »Schutz, den man sich leisten kann«.
Mehr Umverteilung, mehr Frontex: EU-Mittelmeeranrainer verabschieden Erklärung zu Migrationspolitik.
Die Präsentation bestätigt indes Beobachtungen, die auch schon von Seenotrettungsorganisationen zu hören waren: In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 nahmen die Abfahrten großer Gruppen aus Ostlibyen deutlich zu. Der Landesteil steht nicht unter der Kontrolle der Regierung.
Und noch eine Statistik lässt aufhorchen: Laut UNHCR ist die Zahl der Toten im Mittelmeer 2021 gegenüber 2021 um 200 auf 1358 zurückgegangen, obwohl es mehr Abfahrten gab. Die Angaben unterscheiden sich von denen der Internationalen Organisation für Migration (IOM), die für 2022 von 1417 Toten im zentralen und über 2400 Toten im Mittelmeer insgesamt spricht. Darauf machte ein Sprecher der zivilen Rettungsorganisation Sea-Watch gegenüber dem »nd« aufmerksam. Er betonte, dass auch gegenüber der IOM-Statistik die Dunkelziffer der unentdeckten Überfahrten und damit der unbekannten Todesfälle noch hoch sein dürfte.
Sea-Watch kritisiert das UNHCR grundsätzlich. »Statt Fürsprecherin für Flüchtende zu sein, beobachten wir vielmehr öffentliches Schweigen in Bezug auf staatliche Abschottungspolitik und ihre Folgen«, erklärte die Organisation. Das UNHCR müsse sich auch mit Geflüchteten in Libyen solidarisieren. Tausende von ihnen hatten vor einem Jahr vor dem Sitz des UNHCR in Tripolis campiert, um gegen die menschenrechtswidrige Behandlung in libyschen Lagern zu protestieren. Viele wurden verhaftet.
Auch die Strukturen der Geflüchteten selbst und ihre Unterstützer kritisieren das UN-Hochkommissariat. Es neige dazu, »für oder über Menschen auf der Flucht zu sprechen, anstatt deren Stimmen zu verstärken«, moniert die Gruppe Solidarity with Refugees in Libya gegenüber »nd«. »Anstatt zuzuhören, kritisiert das UNHCR die Proteste der Flüchtlinge und schweigt angesichts der brutalen Vertreibungen und Inhaftierungen, die für viele bis heute andauern«. Ein Grund dafür liege in der finanziellen Abhängigkeit des UNHCR von westlichen Staaten, vermutet Solidarity with Refugees in Libya. Dadurch werde das UNHCR »Teil eines neokolonialen Polizeisystems zur Steuerung von Migration«. Dies gelte auch für das Büro in Libyen.
Dass man in Tripolis die Rolle als Unterstützer der Belange von Schutzsuchenden nicht ausfüllt, ist dem UNHCR offenbar bewusst. Man sei »für das, was was wir tun, und was wir nicht tun«, einer immer stärkeren Kritik der »von Flüchtlingen und Migranten geleiteten Organisationen« sowie Nichtregierungsorganisationen ausgesetzt, heißt es in der Präsentation. Diesen »erhöhten Reputationsrisiken« will das Büro jedoch nicht mit einer besseren Politik für Geflüchtete begegnen, sondern mit einer »besseren Abstimmung unserer jeweiligen Kommunikationsstrategien«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.