Arbeitsrechte mit Füßen getreten

In Brasilien geht es nach der Ära Bolsonaro um die Schaffung neuer Kontrollstrukturen

»Internationaler Druck für den Schutz der Arbeitsrechte in Brasilien ist ausdrücklich erwünscht«, sagte Luis Eduardo Silva. Der Experte der Gewerkschaft der Landarbeiter (Contar) äußerte sich im Vorfeld des Besuchs des deutschen Landwirtschaftsministers Cem Özdemir und des Wirtschaftsministers Robert Habeck.

In Brasilien werden Agrarprodukte zu erheblichen Teilen für den internationalen Markt produziert. Arbeitsrechtsexperte Silva, der gerade erst in Deutschland war, hofft auf das dortige Lieferkettengesetz. »Wir brauchen mehr Monitoring, mehr Sensibilität, mehr politischen Druck, um die Rückschritte bei den Arbeitsrechten in den letzten vier Jahren möglichst schnell rückgängig zu machen«, sagte er mit Blick auf die Regierungszeit des rechten Präsidenten Jair Bolsonaro. Silva engagiert sich insbesondere im Weintrauben- und Mangoanbau rund um das Sāo-Francisco-Tal in Bahia, woher fast alle brasilianischen Exporte stammen, und auch im Orangensektor des Bundesstaats.

Ob Özdemir und Habeck eine Hilfe sein können, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. Die Grünen-Politiker weilen seit Sonntag in Brasilien und besuchen im Anschluss Kolumbien. Beide Länder gehören dem Staatenbund Mercosur an, mit dem die EU ein Handelsbündnis schließen will. Seit der Regierungsübernahme des neuen Präsidenten Lula da Silva sind die Chancen auf einen Abschluss wieder gestiegen. Nachhaltigkeit und Regenwaldschutz sollen aus Sicht Özdemirs und Habecks dort einen Platz finden.

Es geht bei dem Besuch aber auch darum, gegenüber dem Kontrahenten China zu punkten. Am Montag besuchten beide die deutsch-brasilianischen Wirtschaftstage in Belo Horizonte. Die Industrie hüben wie drüben hofft nach dem Abgang Bolsonaros auf bessere Wirtschaftsbeziehungen. Werden dabei die Arbeitsrechte gestärkt – oder kommen sie unter die Räder?

Neuaufbau der Inspektionen

Auf jeden Fall liegt in Brasilien einiges im Argen. Das Bild gegenüber des Schreibtischs von Staatsanwalt Luis Cameiro Filho, das drei Landarbeiter mit geschulterter Hacke zeigt, wurde dem Ministerium gespendet und soll die Verantwortlichen motivieren. Das Team um Cameiro Filho ist für Inspektionen auf Plantagen sowie in großen Betrieben im Agrar- und anderen Sektoren in Bahia verantwortlich. Der nordostbrasilianische Bundesstaat gehört zu den großen agroindustriell geprägten Regionen im Land. Derzeit haben Cameiro Filho und seine Mitarbeiter*innen alle Hände voll zu tun, um das Ministerium zu reorganisieren: »Wir stehen an einem Neuanfang, müssen die Inspektionen des Arbeitsministeriums neu aufbauen, Inspektor*innen anwerben und koordinieren, wo sie hingeschickt werden«, schildert der Staatsanwalt auf Nachfrage die Herausforderungen.

Das läuft landesweit so oder so ähnlich. »Nach den vier Jahren unter Präsident Jair Bolsonaro gilt es, Kontrollstrukturen wieder aufzubauen, zu reparieren oder neu zu strukturieren – in den Ministerien, in der Justiz und in den Ombudsstellen für Grundrechte«, schildert der Direktor der Nichtregierungsorganisation Repórter, Leonardo Sakamoto, die Herausforderung. Repórter hat sich national wie international einen Namen mit Studien zur Verletzung von Arbeits-, Umwelt- und auch indigenen Rechten gemacht. Für Sakamoto ist es unstrittig, dass Brasilien in den letzten vier Jahren diese Rechte mit Füßen getreten hat: »Die Zahl der Arbeitsrechtsverstöße und anderer Verletzungen von Grundrechten hat zugenommen, genauso wie Angriffe auf indigene Gemeinden.«

Laut den Zahlen, die Ombudsstellen, Gewerkschaften und die Internationale Arbeitsorganisation zusammengetragen haben, wurden in Brasilien zwischen 1995 und 2022 mehr als 77 000 Arbeiter*innen aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreit – Tendenz aber sinkend. Der Grund: Die Regierung schloss das nationale Arbeitsministerium und strich die Etats für andere Kontrollinstanzen wie die Ombudsstelle für Grundrechte rigoros zusammen. Folgerichtig ging die Zahl der Inspektionen von Betrieben rapide nach unten, und das wird sich unter der neuen Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva erst peu à peu ändern. Das gibt auch Staatsanwalt Luis Cameiro Filho zu und nennt die Sektoren, in denen es in der Vergangenheit immer wieder massive Verletzungen von Arbeitsrechten gab: Orangenanbau, Mango- und Weintrauben-Plantagen sowie die Kaffeeernte.

Auch deutsche Supermärkte in der Pflicht

Die Plantagen in Bahia beliefern auch deutsche Supermärkte. Luis Eduardo Silva sieht diese daher in der Pflicht: »Es reicht nicht, die Verantwortung für Verletzungen der Arbeitsrechte, die Gefährdung der Gesundheit der Erntearbeiter*innen durch hohen Pestizideinsatz durch die Aufnahme entsprechender Artikel in den Verträgen den Lieferanten aufzuborden«, mahnt er und sieht auch die Politik gefragt. Ob Özdemir und Habeck dazu etwas zu sagen haben?

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