Tunesiens Präsident sucht Sündenböcke

Seit die Politik gegen Migranten hetzt, leben Schwarze Menschen in Tunesien gefährlich. Es kommt immer wieder zu Übergriffen

  • Hannah Jagemast, Tunis
  • Lesedauer: 7 Min.
Josephus ist aus Sierra Leone geflohen. Zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn lebt er in einem Zeltlager.
Josephus ist aus Sierra Leone geflohen. Zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn lebt er in einem Zeltlager.

»Wir sind obdachlos«, verkünden drei Männer fast gleichzeitig, als würden sie mit einer Stimme sprechen. »Wir haben mit einem Mal alles verloren, unsere Wohnung, unseren Job und jeglichen Glauben an die Menschlichkeit«, erzählt Josephus. Er ist niedergeschlagen. Dass Menschen nicht nur ihn, sondern auch seinen sechsjährigen Sohn schlugen, kann er noch immer nicht wirklich begreifen. Er lebt seit nunmehr vier Jahren in Tunesien, seit einem Jahr mit Frau und Kind. Als der tunesische Präsident Kais Saied im Februar auf den erstarkenden Rassismus mit einer Rede reagierte, in der er von einer Verschwörung und einer Afrikanisierung des Landes warnte, wurde die Situation für Schwarze Menschen auf den Straßen Tunesiens brenzlig.

Steine werfende Jugendliche, Angriffe in Straßenbahnen und Polizisten, die wahllos Schwarze Menschen kontrollieren und mitnehmen: Das sind Szenen, die sich in den vergangenen Wochen und Tagen zuhauf in dem kleinen Mittelmeerland zugetragen haben. Zahlreiche Menschen haben ihre Wohnungen verloren und schwere Verletzungen davongetragen. Auch im Gefängnis befinden sich viele von ihnen. »Aber wir haben keine Informationen, wie es ihnen geht oder was sie erwartet«, erklärt Josephus.

Er steht in einer schmalen Passage in der Innenstadt von Tunis. Um ihn herum liegen Matratzen, vereinzelte Zelte und als Regenschutz hergerichtete Planen – die kargen Unterkünfte jener Menschen, die vor Kurzem aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Das Camp ist in der Not entstanden. Etwa 100 Menschen harren hier aus, seit sie im Zuge der rassistischen Rede des Präsidenten Obdach und Bleibe verloren haben. Eine neue Anordnung verbiete es nun, Wohnungen an Menschen ohne Aufenthaltsstatus zu vermieten. Josephus’ Sohn Emanuel klammert sich an seine Beine. Er trägt wie sein Vater eine tief in die Stirn gezogene Mütze. Es ist Februar und auch wenn sich der Klimawandel bereits in Tunesien bemerkbar macht, so sind die Abende und Nächte noch immer sehr kalt. Ein Zwei-Personen-Zelt hat die kleine Familie, um sich zurückzuziehen. »Los, zieh deine Jacke über, Emanuel«, sagt Josephus. Während der Junge beim Anziehen eine Clownshow veranstaltet, sorgt sich Josephus um die Anderen im Camp. Er zeigt auf einen schmächtigen Jungen namens Mohammed: »Er ist erst 16, hat seine Eltern verloren und ist hier jetzt allein«. Wenige Meter entfernt sitzt Josephus’ Landsmann Osman, umzingelt von einer kleinen Menschengruppe. Beim brutalen Rauswurf aus seiner Wohnung brach sein Bein. »Ich kann es seitdem nicht mehr anwinkeln«, klagt der junge Mann, während ein anderer den dürftigen Verband erneuert.

Im Zuge einer dramatischen Abwärtskurve der wirtschaftlichen Lage, von Inflation, Lebensmittelknappheit und Armut ist der Rassismus in der tunesischen Gesellschaft erstarkt. Geflüchtete vor allem aus west- und zentralafrikanischen Staaten müssen als Sündenbock für die hohe Arbeitslosenquote herhalten. Während Kais Saied keine Antworten auf politische und wirtschaftliche Missstände zu geben weiß, beinhaltet seine populistische Meinungsmache immer mehr autoritäre und faschistische Tendenzen. Nach einer Verhaftungswelle gegen politische Oppositionelle geraten nun Schwarze Menschen in den Fokus. Viele Botschaften afrikanischer Staaten sowie Student*innenvereinigungen haben ihre Landsleute angehalten, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Das Risiko willkürlicher Aggression sei zu groß. Vor der Auslandsvertretung der Elfenbeinküste haben sich ebenfalls obdachlos gewordene Menschen versammelt. Bereits zwei Flugzeuge mit freiwillig Rückreisenden landeten in Guinea. Auch nach Mali und in die Elfenbeinküste konnten viele Menschen zurückfliegen.

Die Zusammenkunft der Geflüchteten in der Passage dient somit auch dem Schutz. »Hier sind wir immerhin viele Menschen an einem Ort, das gibt uns Sicherheit«, erklärt Josephus. Es qualmt. Einige Personen verbrennen Holzkohle, um sich an der Glut zu wärmen. Ab und an rührt jemand die Suppe auf dem kleinen Gasherd um. Mit Pappen umzäunt, bildet er eine provisorische Küchenzeile. Daneben steht ein Karton mit Baguettes. Sie wurden von einigen tunesischen Aktivist*innen vorbeigebracht, die Geflüchtete mit Essen, Zelten und sonstigem Überlebensnotwendigen unterstützen. Sie besuchen auch Menschen zu Hause, die sich seit Tagen nicht mehr aus der Wohnung trauen, und versorgen sie mit Lebensmitteln. Die Helfenden organisieren sich privat, wollen anonym bleiben, denn auch Vereine, die Hilfe leisten, haben schon Drohungen erhalten. Der staatliche Repressionsapparat läuft seit Beginn des Jahres auf Hochtouren: Immer wieder kam es zu Festnahmen von politischen Oppositionellen. Auch die Pressefreiheit wird missachtet. Erst vor Kurzem erregte die Verhaftung von Noureddine Bhiri, dem Chef des größten privaten Radiosenders Mosaique FM, der sich regelmäßig kritisch gegenüber dem Präsidenten äußert, großes Aufsehen.

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Viele Tunesier*innen zeigen sich schockiert angesichts der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in ihrem Land. Dass sie mit der rassistischen Stimmungsmache ihres Präsidenten nicht einverstanden sind, machten rund 1000 Demonstrierende Ende Februar deutlich. »Nein zu Rassismus, Tunesien ist ein afrikanisches Land«, hallte es durch die Straßen, als der Protestzug durch das Zentrum der Hauptstadt zog. Auch in der Woche darauf protestierten mehr als 1000 Menschen auf den Straßen von Tunis – aufgerufen hatte der Gewerkschaftsverbund UGTT. »Wir verteidigen die Rechte aller, unabhängig von Hautfarbe und Staatsangehörigkeit«, sagte der UGTT-Generalsekretär Noureddine Tabboubi bei seiner Rede. Die tunesische Journalistin Ghaya Ben Mbarek bezeichnet diesen Protest als »die bisher größte öffentliche Herausforderung« für Kais Saied.

In dem improvisierten Lager bricht langsam die Dunkelheit herein. Es ist Regenzeit in Tunesien. Doch nicht alle Anwesenden haben Zelte, um sich vor der Nässe zu schützen. Viele Decken und Matratzen liegen unter freiem Himmel, mit den Kopfenden an den metallenen Zäunen der Internationalen Organisation für Migration (IOM), auf dem in zweieinhalb Meter Höhe gerollter Nato-Draht thront. Die Lage des Camps im Geschäftsviertel Lac 1 ist nicht zufällig gewählt worden. Viele in dem Camp möchten Aufmerksamkeit erzeugen und politischen Druck ausüben, ist das doch eine der wenigen Möglichkeiten, etwas für ihre Situation zu tun. Die IOM ist eine zum Teil an die UN angegliederte Organisation, die sich um die weltweite Migration kümmert. Ihre Tätigkeiten in Nordafrika bestehen zu großen Teilen darin, Geflüchtete aus afrikanischen Staaten in ihre Heimatländer zurückzuführen. Die akute Notlage vor ihrer gut gesicherten, eher an eine Festung erinnernden Zentrale scheint sie wenig zu kümmern. »Sie wollten unsere Handys zum Aufladen nicht annehmen«, sagt Josephus. »Auch ihr Wlan haben sie mit uns nicht geteilt.« Dabei weiß die IOM, dass viele der Geflüchteten kein Geld für Guthaben besitzen. Der Mann zuckt mit den Schultern.

Einige Geflüchtete sind hier, um sich für Rückführungen in ihre Heimatländer registrieren zu lassen und erhoffen sich dabei Unterstützung. Für andere ist ein Zurück keine Option – zu ihnen gehört Josephus. Sein Heimatland Sierra Leone ist kein sicherer Ort. Als im Zuge der brenzligen politischen Situation seine Schwiegermutter im vergangenen Jahr erschossen wurde, entschloss sich Josephus’ Frau mit Emanuel ebenfalls nach Tunesien zu kommen. »Bevor ich zurückgehe, bleibe ich lieber hier auf der Straße obdachlos.«

Weiterzureisen über das Mittelmeer nach Europa, das haben hier fast alle schon mal probiert. 2000 bis 2500 Dinar koste es, sich von Schleppern übersetzen zu lassen. 7000 zahlte Josephus für seine ganze Familie. »Der Moment, in dem sie dich abfangen, ist so unglaublich frustrierend, wenn du weißt, wie viel scheiß Geld darin steckt.« Sein Freund wurde bereits drei Mal von der tunesischen Küstenwache abgefangen und ans Festland zurückgeschifft. In der jetzigen Situation – ohne Arbeit – rückt der nächste kostspielige Versuch in weite Ferne.

Weder Algerien noch Libyen ist ein sichererer Ort für die Migranten. So bleibt vorerst nur das Ausharren vor der IOM-Zentrale. Dass Tunesien die geflüchteten Menschen aus den südlicheren Ländern nicht willkommen heißt, haben der Präsident sowie viele Bürger*innen des Landes deutlich gemacht. Ob Kais Saied seinen populistischen Aussagen weitere Schritte folgen lässt und Abschiebungen organisiert, ist ungewiss. Vorerst werden die Menschen sich selbst überlassen.

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