Irak: »Die Rechnung hat das Volk bezahlt«

Der Irak-Experte Eckart Woertz über nationale Sicherheitsinteressen hinter dem Krieg von 2003

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 7 Min.

Schon vor dem Beginn der militärischen Operation durch die USA und Großbritannien wiesen viele Stimmen darauf hin, dass dieser Krieg gegen das Völkerrecht verstoße, also illegal sei. Das wurde auch im Nachhinein durch einen Großteil der Völkerrechtler so gesehen und durch Rechtsgutachten gestützt. Wie schätzen Sie das ein?

Die militärische Operation lief ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats, insofern war es völkerrechtlich ein Angriffskrieg. Saddam Hussein war natürlich ein schlimmer Diktator, der auch seine eigene Bevölkerung massiv geknechtet hat, kurdische Zivilisten in Halabja sogar mit Giftgas zu Tausenden umgebracht hat. Insofern sind schon Konstellationen denkbar, wo man sagt: Hier muss man eingreifen – gemäß der Norm »Responsibility to protect«, die dann später eingeführt wurde. Aber im spezifischen Fall wurde hier eben völkerrechtlich kein UN-Sicherheitsratsmandat eingeholt. Frankreich, Deutschland, auch Russland und China wollten die Suche nach Massenvernichtungswaffen noch fortführen. Rein auf der juristischen Ebene war der Krieg also völkerrechtswidrig.

Interview

Eckart Woertz ist Direktor des Instituts für Nahost-Studien (Imes) am Giga (German Institute for Global and Area Studies) in Hamburg und Professor für Zeitgeschichte und Politik des Nahen Ostens an der Universität Hamburg. Seine Forschungsinteressen umfassen die politische Ökonomie des Nahen Ostens und Nordafrikas, Energiefragen und Ernährungssicherheit.

Es wurden damals auch falsche Beweise für die Existenz angeblicher Massenvernichtungswaffen im Irak konstruiert. Wie erklären Sie sich diese unbedingte Entschlossenheit der amerikanischen Regierung, den Irak mit einem Krieg zu überziehen – auch mit einer konstruierten Lüge?

Saddam Hussein hatte in der Vergangenheit Massenvernichtungswaffen und hat sie auch eingesetzt als einer der wenigen Führer seit dem Zweiten Weltkrieg. Das müssen wir erst einmal festhalten. Er hat sie auch gegen Zivilisten eingesetzt, insofern war das nicht völlig aus der Luft gegriffen. Allerdings waren die Abrüstungsmaßnahmen nach der Invasion Kuwaits durch den Irak und dem Zweiten Golfkrieg durchaus erfolgreich. Es gab aber Unstimmigkeiten. Die UN-Inspektoren mussten 1998 das Land verlassen, dann wurden sie wegen der militärischen Drohung der USA, die im Hintergrund stand, 2002 wieder ins Land gelassen, wie der Leiter der Inspektionen Hans Blix durchaus zugab. Sie haben einerseits gesagt, dass der Irak sich nicht in dem Maße kooperativ zeige, wie das wünschenswert wäre. Andererseits haben sie auch gesagt, dass sie keine »smoking guns« gefunden hätten und mehr Zeit bräuchten. Insofern wäre das bessere Szenario gewesen, das ja auch Deutschland und Frankreich verfolgt haben, dass man die Inspektionen hätte weiterlaufen lassen. Aber dass es völlig aus der Luft gegriffen gewesen wäre, dass es noch Massenvernichtungswaffen im Irak geben könnte, dem ist nicht so. Saddam Hussein hat zu einem bestimmten Zeitpunkt Massenvernichtungswaffen gehabt, hat sie auch eingesetzt und zudem ein militärisches Nuklearprogramm verfolgt, das nur durch das israelische Bombardement des Osirak-Reaktors 1982 vorläufig beendet wurde.

Es gab seinerzeit auch den Vorwurf an die deutsche Bundesregierung, dass Deutschland sich indirekt beteilige an dem Krieg, unter anderem mit Awacs-Aufklärungsflügen.

Deutschland hat natürlich gewisse logistische Hilfsleistungen bereitgestellt. Auch Ramstein als wichtiger logistischer Hub für militärische Lieferungen der Amerikaner spielte hier eine Rolle. Insofern gab es bei aller Opposition auch eine indirekte Servicebeteiligung. Die USA waren natürlich nach wie vor ein sehr wichtiger Verbündeter. Und viele der Beweggründe, warum man sich am Irak-Krieg beteiligte, hatte auf Seiten der Europäer – Polen, Tschechien, Spanien etwa – nichts mit dem Irak zu tun, sondern mit nationalen Sicherheitsinteressen. Für diese sah man die USA als Führungsmacht in der Nato und unerlässlichen europäischen Partner an, eine Ansicht, die durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine durchaus eine Rechtfertigung erfahren hat.

Inwiefern?

Europa ist nur bedingt in der Lage, sich selbst zu verteidigen. Insofern ist die Rolle der Amerikaner prominent. Und dieser Rolle wollte man sich versichern, zum Beispiel auf der polnischen Seite. Die Absprachen im Sicherheitsrat zwischen Frankreich, Deutschland und Russland haben bei Polen und Tschechen unangenehme historische Erinnerungen wachgerufen. Nicht nur, dass sie der sowjetischen Dominanz erst kürzlich entronnen waren, für die Tschechen rief das Erinnerungen an das Münchner Abkommen von 1938 wach, als die Franzosen ihre Sicherheitsgarantien nicht eingelöst hatten. Und bei Polen ließen solche deutsch-russischen Absprachen wegen der Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt die Alarmglocken schrillen.

Es gab eine Reihe von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen während des Krieges und danach in der Besatzungzeit, zum Beispiel die Folterung von Gefangenen im Gefängnis von Abu Ghraib. Gab es eine juristische Aufarbeitung?

Also von der amerikanischen Seite wenn überhaupt nur sehr bedingt. Diese Blackwater-Söldner, die 2007 auf dem Nissur-Platz in Bagdad ein Massaker unter Zivilisten anrichteten, wurden ausgeflogen; nach ihrer Verurteilung in den USA 2014 hat sie der damalige US-Präsident Donald Trump 2020 begnadigt. In jüngerer Zeit gab es die Kriegsverbrechen des Islamischen Staates. Die werden in Deutschland gelegentlich aufgearbeitet im Rahmen der universellen Rechtsprechung, wenn man Beweise hat, um hier juristisch vorzugehen, zum Beispiel im Falle des Völkermords an den Jesiden. Aber das sind natürlich nur sehr wenige Fälle im Vergleich zu dem massiven Ausmaß an Gewalt.

Welche Auswirkungen hatte der Krieg auf die Entwicklung des Irak? Es wurde ja quasi im Nachhinein als Kriegsgrund nachgeschoben, den Irak zu demokratisieren, nachdem Saddam Hussein abgesetzt worden war. Der Irak sollte zu einem demokratischen Staat umgestaltet werden. Was ist daraus geworden?

Der Irak war wirtschaftlich schon am Boden, als der Krieg ausbrach. Es gab erst den Iran-Irak-Krieg und dann ab 1991, nach dem Zweiten Golfkrieg, 13 Jahre lang Sanktionen, durch die das Land massiv verarmte. Die Bombardements im Zuge der Befreiung Kuwaits 1991 und dann wieder 2003 haben die Infrastruktur zerstört, vor allem die Stromversorgung. Dazu gibt es eine große Abhängigkeit vom Erdöl, auf der anderen Seite musste man die Ölproduktion erst einmal wieder hochfahren, um Geld für Reparaturmaßnahmen zu haben und die Wirtschaft wieder in Gang zu bekommen. Dieser Demokratisierungsgedanke wurde von den Neocons in der US-Regierung ein bisschen hinterhergeschoben. Für andere wie den damaligen Verteidigungsminister Donald Rumsfeld war das nicht besonders wichtig. Da haben machtpolitische Interessen eine Rolle gespielt und durchaus diese, sagen wir mal, Befürchtungen bezüglich Massenvernichtungswaffen, die dann auch zu einem Aktivismus geführt haben. Das sollte man nicht unterschätzen. Wie auch immer: Die Rechnung hat das irakische Volk bezahlt, nicht nur durch den Krieg selbst, sondern auch durch die Folgen. Die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung war noch deutlich ausgeprägter während des Bürgerkriegs 2006-2008 und dann erneut mit dem Islamischen Staat ab 2014.

Wie entscheidend war die Rolle der fossilen Energieressourcen Öl und Gas im Irak für den Angriffskrieg der USA?

Es gibt viele Mutmaßungen, ob der Krieg für Öl geführt wurde. US-Vizepräsident Dick Cheney war früher Vorsitzender des US-Unternehmens Halliburton, das im Energiesektor tätig ist, und Vorsitzender der US-amerikanischen Energiekommission. In diesem Rahmen gab es auch US-amerikanische Befürchtungen über die Ölverträge, die Frankreich und Russland mit dem Irak abgeschlossen hatten für die Zeit nach den Sanktionen. Aber da einen mechanischen Transmissionsriemen anzunehmen, ist spekulativ. Es gibt nicht die »smoking gun«. Und vor allem: Wenn es eine Verschwörung gewesen sein sollte, um an Öl im Irak zu gelangen, dann hat sie nicht funktioniert, weil die meisten Ölverträge später vor allem an chinesische und europäische Firmen gegangen sind. Lange Rede, kurzer Sinn: Das ist Spekulation. Als alleiniges Argument, denke ich, ist das nicht hinreichend.

Welche Rolle spielt der Irak-Krieg von 2003 für die Iraker heute? Wird daran erinnert?

Die Tendenz im Westen ist, an die eigene Sichtweise zu erinnern: Wie war das? Wie ist es zur Entscheidung gekommen? Was wurde falsch gemacht? Was war die Rolle von Russland, Frankreich, Deutschland? War es völkerrechtswidrig oder nicht? Für Irakis stehen andere Sachen im Vordergrund. Einerseits war Saddam Hussein weg, andererseits gab es ein völliges Chaos: erst die Plünderungen, später das Abrutschen in den Bürgerkrieg und die Errichtung eines politischen Systems, das auf einem sektiererischen Proporz aufbaut, der diesen Bürgerkrieg befeuert hat. Die damalige Entscheidung von Paul Bremer, dem Chef der amerikanischen Besatzungsbehörde im Irak, die Armee aufzulösen und die Baath-Partei zu verbieten, hat zwei wesentliche Ordnungsfaktoren in der irakischen Gesellschaft, die diese bis dahin waren, über Nacht verschwinden lassen – ohne dass eine Alternative an die Stelle getreten wäre. Und in diesem Vakuum entfaltete sich ein chaotischer, gewaltsamer Wettbewerb.

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