- Berlin
- Berlin-Wahl
Claudia Engelmann (Linke): »Dann lande ich in der Insolvenz«
Die ehemalige queerpolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus über die persönlichen Konsequenzen der Berlin-Wahl
Frau Engelmann, was haben Sie gedacht, als das Landesverfassungsgericht im vergangenen Jahr angekündigt hat, die Wahl zum Abgeordnetenhaus von 2021 komplett wiederholen zu lassen?
Claudia Engelmann ist eine von gut 25 Mitgliedern des Abgeordnetenhauses, die im Zuge der Wiederholungswahl ihr Mandat verloren haben. Die studierte Sozialarbeiterin, Jahrgang 1980, wuchs in Tangermünde (Sachsen-Anhalt) als Kind einer Arbeiterfamilie auf. 2016 zog die Linke-Politikerin in die Bezirksverordnetenversammlung Lichtenberg ein. Bei der Abgeordnetenhauswahl 2021 gewann sie das Direktmandat im Wahlkreis Lichtenberg 3. Im Abgeordnetenhaus engagierte sie sich als queer- und sportpolitische Sprecherin der Linksfraktion.
Ich war sehr überrascht. Natürlich sind 2021 Fehler passiert, aber auf Lichtenberg und meinen Wahlkreis Lichtenberg 3 traf das nicht zu. Ich kann die Entscheidung nicht nachvollziehen.
Nun sind Sie eine der gut 25 Abgeordneten, die durch die Wiederholungswahl ihr Mandat verloren haben – extrem knapp mit nur zehn Erststimmen Rückstand zu Ihrem CDU-Herausforderer – und klagen selbst vor dem Landesverfassungsgericht, in dem Fall auf eine Nachzählung der Wahlzettel.
Richtig. Wobei der Weg wohl erst mal über das Verwaltungsgericht führen wird. Es gab in meinem Wahlkreis mehrere Auffälligkeiten, die von Wahlhelfer*innen bestätigt wurden und die Klage angesichts des knappen Ausgangs rechtfertigen. Angefangen bei den Wahllokalen, in denen es mehr Stimmen als Wählende gab, bis zur Volkshochschule am Fennpfuhlpark, bei der der Fahrstuhl nicht funktionierte, sodass Menschen mit Rollator oder Rollstuhl im Keller wählen mussten, ohne dass dort ein eigener Wahlvorstand eingerichtet war.
Lichtenbergs Bezirkswahlleiter und der Landeswahlausschuss sagen, das sind Fehler, die überall passieren können und keine komplette Kontrollzählung rechtfertigen.
Es gibt genügend Beispiele aus den vergangenen Wahlen, wo bei einer knappen Stimmendifferenz noch mal nachgezählt wurde, 2016 in Pankow im Wahlkreis von Klaus Lederer, 2011 in Lichtenberg in zwei Wahlkreisen. Ich gehe auch davon aus, dass etwa im Wahlkreis von Franziska Giffey bei einer Stimmendifferenz dieser Art der öffentliche Druck so groß gewesen wäre, dass eine Kontrollzählung stattgefunden hätte.
In der »Berliner Morgenpost« wurde Ihnen vorgeworfen, Sie würden sich ein Vorbild an Donald Trump nehmen und so lange nachzählen lassen wollen, bis Ihnen das Ergebnis passt. Starker Tobak. Was macht das mit Ihnen?
Ich habe versucht, diese Kommentare an mir abperlen zu lassen. Und ich weiß auch nicht, ob am Ende der Kontrollzählung ein anderes Ergebnis herauskommt. Es geht um die Wiederherstellung des Vertrauens in die ordnungsgemäße Durchführung von Wahlen. Wir alle brauchen das. Nach dem Eklat 2021 wäre eine Nachzählung wohl das geringere Übel. Es gab bei mir in 31 von 53 Wahllokalen mögliche mandatsrelevante Fehler. Für mein Verständnis von Demokratie kann ich da nicht drüber hinweggehen. Deshalb sage ich: Ich mache das, ich ziehe das durch, mit allem, was dranhängt, denn ich klage ja als Privatperson.
Was kostet Sie das?
Minimum 6000 Euro. Und ich muss dazu sagen: Die habe ich nicht. Meine Unterstützer*innen haben deshalb schon einen Spendenaufruf auf der Plattform Betterplace ins Leben gerufen. Ich freue mich über jeden Euro. Damit unsere Stimme zählt.
Den ebenfalls angekündigten Antrag auf einstweilige Anordnung, die Konstituierung des Abgeordnetenhauses am vergangenen Donnerstag verschieben zu lassen, haben Sie fallengelassen. Gab es da Druck aus Ihrer Partei Die Linke?
Überhaupt nicht. Das war eine rechtliche Abwägung. Ich habe mich auf die Einschätzung unterschiedlicher Jurist*innen verlassen. Das wäre noch mal mehr Geld gewesen und ich wäre damit das Risiko eingegangen, dass bei einer Ablehnung der einstweiligen Anordnung auch das Hauptsacheverfahren abgelehnt wird. Dann wäre die Klage ganz vom Tisch gewesen. Die Gefahr wollten wir nicht in Kauf nehmen und haben stattdessen gesagt: Wir gehen lieber den langsameren und deutlich längeren Weg, auch wenn wir erst in anderthalb Jahren eine Entscheidung haben.
Was passiert jetzt mit Ihrem Wahlkreisbüro am Anton-Saefkow-Platz in Fennpfuhl?
Seitens des Abgeordnetenhauses wird mein Wahlkreisbüro im März das letzte Mal finanziert, meine vier Mitarbeiter*innen musste ich entlassen. Ich habe ein Sonderkündigungsrecht für das Büro, aber auch das greift erst zum 30. Juni. Mittlerweile habe ich die Zusage der Partei, dass das Büro bis dahin finanziert wird. Auch die Kosten für Strom und Telefon werden vom Bezirksverband erst mal getragen.
Sie fallen also weich.
Von wegen. Ich bekomme im April noch einen Monat Übergangsgeld. Ich war auch bereits beim Jobcenter und bei der Arbeitsagentur. Bei mir ist bislang nicht geklärt, ob ich ab 1. Mai Arbeitslosengeld I beziehe oder direkt ins Bürgergeld falle.
Bürgergeld? Ernsthaft?
Ernsthaft. Das ist schon eine extreme Kurve nach unten. Wir haben als Abgeordnete ja keinen sozialversicherungspflichtigen Job. Das heißt, auch nach fünf Jahren hätte ich keinen Anspruch auf ALG I. Für die Abgeordneten gibt es pro Jahr der Zugehörigkeit zum Abgeordnetenhaus einen Monat Übergangsgeld. Nach fünf Jahren bedeutet das, dass ich eine ganz andere Planbarkeit mit Blick auf den Jobwechsel gehabt hätte. Natürlich kann ich auch Kosten wie die für die Handyverträge für meine Mitarbeiter*innen, Büro, Versicherung und ähnliches nicht innerhalb eines Monats auf null bringen, sondern ich bleibe auf diesen sitzen.
Wovon ist das abhängig, ob Sie ALG I oder Bürgergeld bekommen?
Die Ämter rechnen gerade hin und her, ob ich ALG-I-berechtigt bin. Es wird 30 Monate zurückgerechnet, also bis zum November 2020. In der Zeit muss ich zwölf Monate vollbeschäftigt gewesen sein, ohne Lücke. Bei mir ist das die Zeit von November 2020 bis November 2021. Am 4. November 2021 habe ich das Mandat angenommen. Deshalb kann es sein, dass mir wenige Tage fehlen, um ALG-I-Anspruch zu haben. Schlaflose Nächte hatte ich aber nicht wegen mir, sondern weil drei der vier Mitarbeiter*innen meines Teams ins Bürgergeld fallen: eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern, eine Schülerin und eine frischgebackene Hochschulabsolventin.
Und trotzdem reichen Sie eine teure Klage ein?
Natürlich. Aber man muss es knallhart sagen: Im Zweifel lande ich im Zuge der Wiederholungswahl in der Privatinsolvenz. Ich hatte nie viel Geld. Ich weiß, wie es ist, am Existenzminimum zu leben. So schlimm ist es tatsächlich. Ich stehe mit meiner Familie mit dem Rücken an der Wand. Ich bin noch Bezirksverordnete in Lichtenberg und bekomme hierfür eine steuerfreie Aufwandsentschädigung. Hier hatte ich etwas Hoffnung, aber auch der Zahn wurde mir gezogen. Die ehrenamtliche Aufwandsentschädigung für die BVV wird bis auf 250 Euro im Fall von ALG I oder Bürgergeld angerechnet.
Aber Sie werden doch in den anderthalb Jahren als Abgeordnete auch Rücklagen gebildet haben?
Nein, das konnte ich nicht. Ich falle also – sowohl mit ALG I als auch mit Bürgergeld – unter die Armutsgrenze.
Sie sind ausgebildete Sozialarbeiterin. Größere Probleme, einen Job zu finden, sollten Sie nicht haben.
Das stimmt. Da habe ich keine Angst. Wiederum ist das Leben komplex. Ein Detail zu meiner persönlichen Situation: Ich habe Multiple Sklerose und bin besonders in den letzten anderthalb Jahren im Abgeordnetenhaus oft über meine Belastungsgrenze gegangen. Dafür kann jetzt keine*r etwas, das war meine persönliche Entscheidung. Aber für mich ist gerade klar, dass ich anders mit mir umgehen muss. Ich möchte nicht nächstes Jahr wieder im Rollstuhl sitzen oder nicht mehr sprechen können, weil ich einen schlimmen Schub habe. Gerade für meine Kinder, die jetzt 14 und 16 Jahre alt werden und beide eine Behinderung haben, ist es wichtig, dass wir jetzt eine kurze Pause einlegen, um uns miteinander neu zu orientieren. Wir sind sehr eng miteinander und natürlich erleben sie das, was ich erlebe, hautnah mit.
Das heißt, Sie legen erst mal eine Pause ein?
Ja. Ich mache endlich die Reha, die ich seit zwei Jahren immer wieder verschoben habe.
Hängen Sie die Politik an den Nagel?
Nein. Ich bin über meine Diskriminierungserfahrungen in die Politik gekommen und ich werde im politischen Kontext bleiben, weil für mich die Anliegen der Menschen und eine solidarische Gesellschaft im Mittelpunkt stehen. Und ich habe das Gefühl, nein, ich habe nicht das Gefühl: Ich weiß, dass ich nicht fertig mit dem bin, was ich kann. Beispielsweise in der Queerpolitik. Ich lebe in einer Regenbogenfamilie, ich weiß um all die Diskriminierungen, die es in dem Bereich gibt, und auch darum, welche Unterschiede es hier bei den Angeboten gibt zwischen der Innenstadt und den Gegenden außerhalb des S-Bahnrings. Das sind Herzensangelegenheiten, um die ich mich weiter kümmern will.
Nun kommt noch das Thema Armut dazu …
Es kommt nicht dazu. Sehen Sie, meine Eltern leben in Altersarmut, die gehen mit 1400 Euro Rente zusammen nach Hause, obwohl sie beide 40 Jahre gearbeitet haben. Auch das treibt mich an. Ich kann das gar nicht ertragen, diese Ungerechtigkeit. Das Leben in Armutsverhältnissen, und dann in so einem Ausmaß. Und ich war schon immer eine Kämpferin, ich habe mich immer engagiert auf den unterschiedlichsten Ebenen, seit sieben Jahren nun in der Politik.
Ein kurzer Blick zurück. Was werden Sie an der Arbeit im Abgeordnetenhaus vermissen? Was werden Sie nicht vermissen?
Als ich vor ein paar Tagen meine Abschieds-E-Mail geschrieben habe, standen mir die Tränen in den Augen. Ich werde sehr viel vermissen. Das war eine tolle Zusammenarbeit, auch in der Linksfraktion. Ich komme ja aus dem kleinen Tangermünde: Überhaupt diese Tür zum Abgeordnetenhaus jemals in meinem Leben zu öffnen, das hätte ich mir nie erträumen lassen, dort angekommen zu sein und dann auch so engagierte Leute zu treffen, parteiübergreifend. Ich wollte ins Abgeordnetenhaus, weil da die Gesetze gemacht werden, weil man dort ein Mitspracherecht hat. Für mich wichtig ist hier der Bereich der Jugendarbeit und der eklatante Schulplatzmangel. Da nicht mehr mitreden zu können, das tut mir im Herzen weh.
Jetzt haben Sie nicht gesagt, was Sie nicht vermissen werden. Wenigstens die 60-Stunden-Woche?
Was werde ich nicht vermissen? (längeres Schweigen) Offensichtlich bin ich noch nicht so weit im Abschiednehmen, dass ich mich über irgendetwas freuen könnte, wo ich sage: Oh, endlich muss ich das nicht mehr machen. Und die 60-Stunden-Woche werde ich auch jetzt haben, ich kenne mich ja.
Werden Sie bei der Abgeordnetenhauswahl 2026 wieder antreten?
Definitiv.
Wieder im Wahlkreis Lichtenberg 3?
Na klar.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.