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Barrierefreiheit in Behörden: Eine Frage des Menschenrechts
Berlin lässt überprüfen, wie behindertengerecht seine Jugendberufsagenturen sind – und findet Verbesserungspotenzial
Normalerweise dauert es rund zwei Stunden, die Paraskevas Evthimiou braucht, um eine Einrichtung wie die Jugendberufsagentur Mitte darauf zu prüfen, wie behindertengerecht sie ist. Doch für die Presse macht der 44-jährige Rollstuhlnutzer eine Ausnahme: Nach 60 Minuten will Evthimiou seinen Barrierefreiheitscheck am Montag unterbrechen, um dann mit seinen beiden Kollegen von der Gesellschaft für teilhabeorientiertes Qualitätsmanagement (Geteq) einen groben Überblick über das zu geben, was ihnen verbesserungswürdig erscheint.
Mithilfe seines Assistenten manövriert sich Evthimiou durch das Gebäude. Er meldet sich bei der Rezeption, fährt in den Büroraum eines Mitarbeiters und tritt anschließend den Weg in den fünften Stock an. Mit seinem Rollstuhl testet er den Aufzug und tastet sich durch die vergleichsweise schmalen Gänge der Jugendberufsagentur vor. Als Evthimiou den Weg nach unten antritt, gibt es Probleme. Im Erdgeschoss angekommen gelingt es dem Rollstuhlnutzer nicht, den Aufzug rechtzeitig zu verlassen. Die Tür schließt sich nach wenigen Momenten und tritt samt Prüfer den Rückweg nach oben an.
Bis Ende April soll laut der Sozialverwaltung jede zweite Jugendberufsagentur in Berlin auf ihre Barrierefreiheit hin überprüft werden. Neben dem Bezirk Mitte betrifft das Marzahn-Hellersdorf, Pankow, Reinickendorf, Spandau und Tempelhof-Schöneberg. Fachexpert*innen mit Behinderungen überprüfen dabei die Bereiche Lernen, Hören, Sehen und Mobilität.
Evthimiou kümmert sich um Letzteres. Der gebürtige Grieche hat einen Großteil seines Lebens in Berlin verbracht, wie er mithilfe eines Sprachcomputers erzählt. »Da ich von Geburt an beeinträchtigt bin, war ich meist in Einrichtungen für Behinderte: Sonderkita, Sonderschule, Werkstatt für Behinderte, Fördergruppe und Tagesförderstätte«, sagt er. Auch hier habe man ihn mit anderen Behinderten in eine gesonderte Klasse gesteckt, doch immerhin sei es möglich gewesen, auf dem Pausenhof mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen.
»Die Geteq hat es mir ermöglicht, nun auch beruflich für behinderte Menschen einzustehen und die Lebens- und Arbeitsbedingungen stetig zu verbessern«, fährt Evthimiou fort. Mit seinen Kollegen sei er in Berlin und Brandenburg unterwegs – in Wohneinrichtungen, Werkstätten, Stadtteilzentren, Museen und eben in Agenturen wie dieser hier. In Berlin sieht der Grieche noch einiges zu tun: »Es gibt noch immer viel zu viele Hürden und Barrieren, die es uns erschweren, teilzunehmen und Unterstützung zu beantragen oder manchmal auch einfach nur einen Bahnhof zu betreten.«
Die vorläufigen Erkenntnisse des Checks in Mitte fasst schließlich Evthimious Geteq-Kollege Daniel Bawey zusammen, der sich dabei an einzelnen Stichpunkten des Rollstuhlnutzers orientiert. »Es gibt kein Richtig oder Falsch, kein Gut oder Schlecht«, sagt Bawey. »Wir geben immer nur Empfehlungen ab und machen auf Dinge aufmerksam.« Die Anregungen allerdings beginnen schon vor Betreten der Jugendberufsagentur: Die Kennzeichnung der Behörde ist zu klein geraten, als dass sehbehinderte Menschen sie entziffern könnten, und es fehlt ein deutliches Symbol, ein Piktogramm. Die Tür zur Agentur öffnet sich zudem automatisch nach außen, ohne Taster. »Das heißt, man wird dort ziemlich überrascht«, führt Bawey aus. Auch hier fällt die warnende Beschriftung der Tür zu klein aus.
An einer weiteren Eingangstür fehlt die Rampe für Rollstuhlnutzer*innen. Neben den sich zu schnell schließenden Türen müssen sich diese im Aufzug mit den zu hoch angebrachten Knöpfen plagen. Auch das Display habe Evthimiou von unten nicht erkennen können und es mangele an einer Sprachausgabe, sagt Bawey. »Da gibt es nochmal in schriftlicher Form ein paar Nachträge und Vorschläge«, kündigt er an. Ein offizieller Abschlussbericht der Geteq-Experten wird folgen.
Ein Resümee zieht auch Sozialsenatorin Katja Kipping, die den Check begleitet hat. »Es ist auf jeden Fall eine Umstellung, wenn man sonst gewohnt ist, Stakkato zu arbeiten«, sagt die Linke-Politikerin und meint die Beschäftigten in den Jugendberufsagenturen. Zugang zur Ausbildung sei nicht nur eine Frage des Menschenrechts, sondern auch in Zeiten des Fachkräftemangels im allgemeinen Interesse – ein »egoistisches Argument«, wie Kipping es selbst nennt.
Für die Beschäftigten der Jugendberufsagentur stellt die Sozialverwaltung deshalb Schulungen in Aussicht, für Handwerksbetriebe werden Inklusionsberatungen angeboten. »An den Standorten der Jugendberufsagentur sind alle Menschen ganz herzlich eingeladen«, sagt Kipping. Der Check aber zeigt: Bis sich auch alle eingeladen fühlen, gibt es noch etwas zu tun.
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