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»Der vermessene Mensch«: Keine Pocahontas-Mythologie
»Der vermessene Mensch« ist der erste deutschsprachige Kinofilm, der sich mit den Verbrechen des deutschen Kolonialismus auseinandersetzt
Forscher vermessen Köpfe in Berlin, das deutsche Militär nimmt den Menschen in Namibia ihr Land weg, ihre Kopfmaße werden zur Rechtfertigung für den Landraub. Forschung als Legitimation kolonialer Landnahme. Die Gehirne der Weißen sind nun mal einfach größer. Eine der vielen Wahrnehmungen, die der Film »Der vermessene Mensch« Zuschauerin und Zuschauer nahelegt, ist die, dass jene, die sich den angeblich Unzivilisierten für überlegen halten, von der eigenen wirklich grenzenlosen Monstrosität tatsächlich nichts ahnen. Der Film beginnt in einem strahlend weißen Medizinhörsaal der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Uni), ein Bild des Selbstbildes der Lehrenden und Forschenden. Er endet, von einem kurzen Epilog abgesehen, in einem deutschen Konzentrationslager in Namibia – enge Räume, Gestank und Dunkelheit –, in dem die Häftlinge die Haut von den Schädeln ihrer Toten abziehen müssen. Zu Forschungszwecken.
»Der vermessene Mensch« ist der erste deutschsprachige Kinofilm, der sich mit den Verbrechen des deutschen Kolonialismus auseinandersetzt. Es ist eine gute Entscheidung des Regisseurs und Autors Lars Kraume gewesen, den Film konsequent aus der Täterperspektive zu erzählen. Eine noch bessere war es wohl, das Drehbuch gemeinsam mit der Hauptdarstellerin Girley Charlene Jazama noch einmal umzuschreiben. Was wohl, wie Jazama und Kraume im Publikumsgespräch nach der Bremer Premiere erzählen, kein Sensitivity Reading, sondern eine recht grundlegende Nachjustierung der Figurenkonstruktion bedeutet hat. Genaues war nicht zu erfahren, aber es scheint so, dass in der Zusammenarbeit die letzten Spuren der Pocahontas-Mythologien aus dem Skript verschwunden sind.
Und Pocahontas-Potenzial hat die Geschichte allemal: Der Ethnologie-Doktorand Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) forscht in Berlin an Totenschädeln rum. Die Weltausstellung gibt ihm die Möglichkeit, lebende Objekte zu untersuchen. Eine Delegation aus Namibia kommt zu Besuch, um mit dem Kaiser zu verhandeln und einen Krieg zu vermeiden. Die Deutschen setzen andere Prioritäten für den politischen und kulturellen Austausch und stellen die Besucher auf der »Deutschen Kolonial-Ausstellung« aus, in exotischen Kostümen. Hoffmann lernt die Gruppe besser kennen und verliebt sich in Kezia Kambazembi (gespielt von Girley Charlene Jazama). Nach dem Besuch schreibt er einen Aufsatz, in dem er die Unterschiede zwischen verschiedenen »Menschenrassen« prinzipiell infrage stellt.
Das hätte, mit dieser Plotanlage, durchaus eine Geschichte über die exemplarische Gutwerdung eines Deutschen und damit auch die Wiedergutwerdung der Deutschen insgesamt werden können. »Der vermessene Mensch« aber verfährt filmisch der Sache angemessen unversöhnlich. Kezia geht zurück nach Namibia, Alexander reist ihr einige Jahre später hinterher, als wissenschaftlicher Begleiter der deutschen Truppen, die ab 1904 Krieg gegen die Herero und Nama führen, die sich gegen den Landraub wehren.
Der Wissenschaftler ist hin- und hergerissen zwischen Forschungsdrang (befeuert zusätzlich durch das väterliche Über-Ich, der verstorbene Vater war ebenfalls Ethnologe), Karrierismus, moralischen Skrupeln und Begehren. Ein Opportunist, dessen Tun und Lassen noch einmal in besonders bedrückender Weise falsch wirkt, weil Bilder und Plotverlauf klarstellen, dass sich hier einer zu jedem Zeitpunkt hätte anders entscheiden können. Das gilt für alle deutschen Figuren in diesem Film, die den Krieg zum Genozid werden lassen: Man muss Menschen nicht in der Wüste verrecken lassen, man muss keine Kinder erschießen, man muss Frauen nicht massenhaft in Lagern vergewaltigen, man muss keine Gräber plündern. Etwas anderes wäre zu jedem Zeitpunkt möglich gewesen. Der Massenmord ist hier die Entscheidung von Menschen mit einem freien Willen.
In diesem Punkt unterscheidet sich »Der vermessene Mensch« von vielen deutschen Filmen zum Beispiel über den Zweiten Weltkrieg, in denen die Figuren als Teile einer Maschinerie gezeigt werden, auf die sie keinen Einfluss gehabt haben sollen. Diesen Ausweg bietet das Drehbuch von Kraume und Jazama nicht. Alexander Hoffmann degeneriert zusehends, wird zum Grabräuber und leidet unter den Widersprüchen, die ihn zerreißen und die er nicht versteht. In so einer Konstellation kann es ein Happy End nicht geben, und am Ende bekommt Hoffmann die Professorenstelle, die er haben wollte, und widerruft seine These von der Gleichwertigkeit der Menschen, die seine Kollegen in Rassen unterteilen. Er sieht als Dozent nicht weniger unglücklich aus als während des Krieges.
Es ist ein denkbar trauriges Ende eines umfassend sinnlosen Forscherlebens, dessen Ergebnisse ausschließlich der Legitimation der Gewalt gedient haben. Insbesondere im letzten Drittel des Films wird noch einmal deutlich, wie klug die Entscheidung war, die Geschichte aus der Täterperspektive zu erzählen und wohlfeile, dem Publikumsgewissen schmeichelnde Identifikationsangebote mit den Opfern zu vermeiden. Einen Film aus der Perspektive der Opfer des deutschen Kolonialismus müssten die Nachfahren dieser Opfer selbst drehen, sagt Jazama, als Antwort auf die Vorwürfe, in »Der vermessene Mensch« würde wieder nur die weiße Perspektive gezeigt. Ein von einem deutschen Regisseur gedrehter Film zum Beispiel über einen Helden des Herero-Aufstands wäre vermessen gewesen, ergänzt Kraume. Eine Erzählung über die deutsche Gewaltgeschichte aus Täterperspektive gelingt natürlich nur, wenn die Erzählung eine möglichst unerbittliche Perspektive auf die Täter impliziert. Eben die wird hier spürbar. In seiner unversöhnlichen Negativität unterscheidet sich »Der vermessene Mensch« vom Großteil des sonstigen deutschen Geschichtskinos.
»Der vermessene Mensch«: Deutschland 2023. Regie: Lars Kraume. Mit: Girley Charlene Jazama, Leonard Scheicher, Peter Simonischek. 110 Min. Jetzt im Kino.
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