- Wirtschaft und Umwelt
- 30 Jahre »sozialistische Marktwirtschaft«
Marktwirtschaft made in China
Pekings wirtschaftliche Reformen feierten lange Zeit große Erfolge und schaffen heute neue Probleme
Seit einigen Jahren ist China in Kaufkraftparitäten gemessen die bedeutendste Volkswirtschaft der Welt. »Die Dominanz der chinesischen Volkswirtschaft scheint dabei die Industrie-
und Handelspolitik der klassischen Industrieländer vor Herausforderungen zu stellen«, heißt es in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift für Wirtschaftspolitik »Wirtschaftsdienst«, die sich der Suche nach einer neuen China-Strategie des Westens annimmt. Dabei war der Aufstieg des Landes zu einer »geostrategischen Herausforderung« trotz seiner vielen Menschen kein Selbstläufer.
Als Erfinder des modernen Chinas gilt Deng Xiaoping (1904–1997). Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei war in den 1960er Jahren noch maßgeblich am missglückten »Großen Sprung nach vorn« beteiligt. Bauern wurden gezwungen, ihre Felder zu verlassen, das Land sollte industrialisiert werden. Das misslang gründlich: Die ganze Wirtschaft wurde zerrüttet und viele Menschen hungerten. Fortan blieb China seinem Selbstverständnis nach sozialistisch, aber es öffnete sich für neue Ideen von außen, auch für kapitalistische. Bauern durften wieder privat Land beackern. Partei und Regierung duldeten nun Privatwirtschaft und erlaubten ausländische Investitionen. Die Frage des richtigen Wirtschaftskurses blieb aber bis heute strittig.
Deng, der in den 1920er Jahren in Frankreich und später in Moskau studiert hatte, galt seit Ende der 1970er Jahre als der starke Mann in Partei und Regierung. Wegweisend wurde eine Reise Dengs 1992 in den Süden Chinas, wo er im Kleinen mit wirtschaftlichen Reformen begonnen hatte. »Denke nicht, dass Planwirtschaft sozialistisch und Marktwirtschaft kapitalistisch ist. Beide sind nur Maßnahmen. Der Markt kann auch dem Sozialismus dienen.«
Nach dieser auch unter europäischen Linken verbreiteten Lesart ist Marktwirtschaft kein exklusives Produkt des Kapitalismus, sondern könne ein Mittel zum guten Zweck sein. Die Kommunistische Partei billigte noch im selben Jahr auf dem XIV. Parteitag Dengs Vorhaben, eine Marktwirtschaft bis zum Ende des Jahrhunderts aufzubauen. Nicht allein private Unternehmen wurden gestärkt, auch Staatsbetriebe erhielten mehr Spielraum. Die entsprechende Verfassungsänderung erfolgte vor 30 Jahren, am 29. März 1993. An dem Tag ersetzten die Abgeordneten den Begriff Planwirtschaft durch »sozialistische Marktwirtschaft« und die Formulierung »vom Staat betriebene Unternehmen« änderten sie in »Unternehmen im Eigentum des Staates«.
Die Beschlüsse lösten einen Wachstumsschub mit zweistelligen Wachstumsraten aus. Es folgten weitere Reformen, auch in Wissenschaft und Forschung. 1997/98 wurden viele Staatsbetriebe privatisiert, Handelsbarrieren wurden beseitigt, das Bankensystem neu gestaltet und im November 2002 trat China nach 15-jährigen Verhandlungen der Welthandelsorganisation WTO bei.
Damit war China in der kapitalistischen Globalisierung angekommen, zu dessen größtem Profiteur die Volksrepublik als »Werkstatt der Welt« wurde. Bald übertraf China Japan als größte Wirtschaftsmacht Asiens. Seit Dengs Verfassungsreform 1993 hat sich bis heute die Wirtschaftsleistung des Landes verfünfzigfacht.
Durch den Beitritt zur WTO haben sich die Bedingungen grundlegend geändert. China baut heute die meisten Schiffe, Computer sowie Nippes aller Art und exportiert diese Produkte. Es gibt kaum noch einen Staat, für den China nicht einer der wichtigsten Handelspartner ist. Unternehmen wie Bytedance (Tiktok), Huawei oder der Erdölkonzern Sinopec sind weltweit aktiv. Eine zentrale Rolle spielt das Land auch bei wichtigen Rohstoffen und deren Raffinierung. Die weltweite Verarbeitung von Kobalt für Batterien findet zu 90 Prozent in China statt. Als Investitionsstandort hat China gerade für deutsche Konzerne und für »schmutzige« Industrien aus dem Globalen Norden eine überragende Bedeutung gewonnen. Zudem sind die 1,4 Milliarden Menschen in China als Konsumenten für viele westliche Konzerne zum wichtigsten Absatzmarkt geworden.
Aber wie auch andere schnell wachsende, aufholende Schwellenländer belasten China »strukturelle Hemmnisse in der Einkommensdynamik«, so die Weltbank. Einer breiten Mittelschicht mit hohen Einkommen und westlichen Konsumansprüchen steht eine noch größere Unterschicht gegenüber, die von dem rasant wachsenden Volkseinkommen weitgehend ausgeschlossen bleibt. So hat sich der Gini-Index, der die Ungleichheit der Einkommen misst, zwar bis 2015 verbessert, ist danach aber gestiegen und liegt nun mit 46,6 Punkten deutlich über der Warnschwelle, welche die Weltbank mit 40 Punkten ansetzt. Problematisch ist auch die Alterung der Gesellschaft. Im Jahr 2022 ist die Bevölkerung erstmals geschrumpft. Für die »sozialistische Marktwirtschaft« kann dies bedeuten: China wird älter, bevor es reich ist. Dabei lebt die Volksrepublik selber von der internationalen Arbeitsteilung. So bestehen Abhängigkeiten bei zentralen Elementen der Wertschöpfungskette, etwa bei Halbleitern, Rohstoffen und Nahrungsmitteln.
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