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Das Bildungswesen ist eine Katastrophe

Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft formuliert Erwartungen an die nächste Berliner Koalition

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.

»Wir müssen uns natürlich vorbereiten, zum Beispiel auf eine Situation von Lehrermangel. Das, glaube ich, haben viele noch nicht vorhergesehen.« Das sagte Kanzler Olaf Scholz (SPD) kürzlich bei einem Bürgergespräch in seinem Bundestagswahlkreis in Potsdam.

Norman Heise vom Berliner Landeselternausschuss muss das am Dienstag nur zitieren und hat einen großen Lacherfolg. Bei einem Termin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) weiß jeder, der am Tisch sitzt, dass ein dramatischer Lehrermangel nicht erst in Zukunft droht, sondern bereits Realität ist. Wer das nicht weiß, hat in den zurückliegenden Jahren keine Zeitung gelesen. Und die Frau von Olaf Scholz ist die brandenburgische Bildungsministerin Britta Ernst (SPD). »Ich frage mich, worüber die am Abendbrottisch reden«, sagt Heise. Er erinnert an die berühmte »Ruck-Rede«, die Bundespräsident Roman Herzog 1997 hielt: Bildung müsse Priorität haben. Es gebe kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.

Daran hat sich Jahrzehnte später nichts geändert. Philipp Dehne erzählt: »Wenn ich mit Lehrern spreche, sagen die: ›Bildungskrise? Das ist eine Katastrophe!‹« Dehne hat früher selbst unterrichtet. Jetzt engagiert er sich im Bündnis »Schule muss anders«. 3000 junge Lehrer bräuchte die Hauptstadt heute Jahr für Jahr. Es kämen jedoch gerade einmal 1000 Absolventen von den Universitäten. An Bewerbern mangele es gar nicht mal. Knapp 3000 Bewerbungen für Lehramtsstudienplätze seien zuletzt von den Berliner Hochschulen abgelehnt worden, darunter 1400 für Sonderpädagogik, berichtet Dehne. Dabei würden Sonderpädagogen händeringend gesucht. »Das kann man niemandem erklären.«

Bei den laufenden Koalitionsverhandlungen von CDU und SPD über die Bildung des künftigen Berliner Senats trifft sich an diesem Mittwoch wieder die Dachgruppe, die den Ergebnissen aus den 13 Facharbeitsgruppen ihren Segen geben muss. Diesen Mittwoch geht es darum, für den Koalitionsvertrag die Passagen zur Bildungspolitik festzuklopfen. Aus diesem Anlass ist ab 13.30 Uhr vor dem Abgeordnetenhaus eine Mahnwache der Gewerkschaft und ihrer Verbündeten geplant.

Durchgesickert ist bisher so gut wie nichts, sieht man einmal davon ab, dass sich die Bildungspolitiker von CDU und SPD prächtig miteinander verstanden haben sollen. Aber das ist keine Überraschung. Insgesamt sind die laufenden Koalitionsverhandlungen von einer für solche Treffen eher untypischen Harmonie gekennzeichnet. »Wir hören gar nichts und sind sehr gespannt, was rauskommt«, sagt die GEW-Landesvorsitzende Martina Regulin. Die Gewerkschaft lässt am Dienstag an ihrem Sitz in der Ahornstraße 5 schon einmal hören, was sie sich unbedingt wünschen würde. Sie hat dazu auch Vertreter von Bündnissen und Arbeitsgemeinschaften eingeladen, die ihrerseits sagen, woran das Berliner Bildungswesen krankt und wie es vielleicht kuriert werden könnte. Die Bildungsungerechtigkeit sei ein Armutszeugnis, findet GEW-Landeschefin Regulin. »Diese Krise betrifft alle Bereiche – von der Kita bis zur Hochschule.« Es brauche vor allem auch finanzielle Ressourcen. »Ja, das ist ein großes Paket. Aber es ist notwendig«, betont Regulin. »Wir erwarten konkrete, realistische und finanziell unterlegte Lösungen.«

Die Universitäten könnten allerdings nicht mit zehn Millionen Euro und auch nicht mit 17 Millionen auf die Schnelle die ersehnten 3000 Lehrer jährlich produzieren, verrät Constanze Baum von der Landesvertretung Akademischer Mittelbau. Die Hörsäle seien im Moment überfüllt und vielleicht komme einmal jemand von der Universität vorbei, wenn die Lehrerstudenten ein Schulpraktikum absolvierten, aber nur vielleicht. Baum vergleicht das System mit einem Karussell, das defekt sei, für das es keine Ersatzteile gebe und das sich dennoch immer schneller drehen solle. Die Bildungsmisere habe auch die Hochschulen erreicht. Einigen Studenten fehlten eigentlich die Grundfertigkeiten, um an einer Hochschule zu bestehen. Baum weiß, wovon sie redet. Denn als Literaturwissenschaftlerin bildet sie an der Humboldt-Universität Pädagogen aus. »Wir haben Leute, die können Groß- und Kleinschreibung nicht, die wollen Deutschlehrer werden.«

Die Probleme fangen bereits in den Kitas an. Die sollen frühkindliche Bildungsstätten sein. Das funktioniert aber nicht, wenn die Gruppen zu groß sind. Bei den ab drei Jahre alten Kita-Kindern sieht es gar nicht mal so übel aus. Auf 8,3 von ihnen kommt in Berlin statistisch eine Erzieherin. Die Bertelsmann-Stiftung empfiehlt 7,5. Doch bei den unter Dreijährigen muss sich eine Erzieherin um 5,2 Kleinkinder kümmern. Drei Kinder sollten es laut Bertelsmann-Stiftung nur sein, erinnert am Dienstag Sonya Mayoufi vom Kita-Bündnis. Diesem Bündnis haben sich Eltern, Gewerkschafter und Wissenschaftler angeschlossen. Besonders die benachteiligten Kinder brauchen Mayoufi zufolge »mehr persönliche Zuwendung und Zeit«. Gemeint sind Kinder, die in sehr armen Familien leben oder in einem Elternhaus, in dem nicht Deutsch gesprochen wird. Dabei muss man noch froh sein, wenn solche Kinder überhaupt eine Kita besuchen und dort wenigstens ein bisschen gefördert werden. In den Schulhorten ein ähnliches Spiel: Wie Elvira Kriebel vom 2016 gegründeten Bündnis Ganztagsschulen sagt, sollte eine Horterzieherin für 15 Grundschüler da sein. Tatsächlich muss sie aber 22 Kinder beaufsichtigen. Wenn Kolleginnen erkranken, könnten es auch 40 Kinder sein.

Auch in der Jugendhilfe sieht es schlimm aus. Eine Fachkraft sollte sich um maximal 28 Fälle gleichzeitig kümmern, andere Sozialarbeiter berichteten ihm aber, dass sie aktuell 70 Familien betreuten, sagt Kollege Fabian Schmidt von der Arbeitsgemeinschaft »Weiße Fahnen«, in der sich Sozialarbeiter zusammengeschlossen haben. Schmidt warnt: »Jegliche Sparmaßnahmen in der Jugendhilfe kosten die Gesellschaft später doppelt und dreifach.«

Da nun aber mehr Erzieher und Lehrer nicht von heute auf morgen zu beschaffen sind, hat Philipp Dehne von »Schule muss anders« eine Idee für eine pragmatische Übergangslösung. Er sagt: »Es kann nicht funktionieren, dass bei 93 Prozent Ausstattung der Schulen noch 100 Prozent der Stundentafel abgedeckt werden sollen.« Er ist überzeugt: »Das erzeugt nur Stress.« Der vermittelte Lehrstoff müsse doch aber bei den Schülern ankommen. Deswegen denkt Dehne: »Weniger ist mehr.«Seite 9

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