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Kriminalstatistik: Eine Statistik, viele Fragezeichen
Bundesinnenministerin legt Polizeiliche Kriminalstatistik vor
Jedes Jahr ist es im Frühjahr irgendwann soweit, gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt stellt der oder die Innenministerin die Polizeiliche Kriminalstatistik vor. Die Vorstellung ist in jedem Jahr ein beliebtes Datum für Innenpolitiker*innen aus Regierung und Opposition, um die aktuelle Politik zu loben oder zu kritisieren und für Interessenverbände, um einen Anlass zu haben, zu fordern, was sie sowieso gerade fordern.
Viel Grund zum Eigenlob hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser am Donnerstagvormittag bei der Vorstellung nicht. Mit bundesweit mehr als 5,6 Millionen registrierten Straftaten musste sie ein Plus von 11,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr vermelden. Keine schöne Botschaft für die hessische Sozialdemokratin. Im Detail musste Faeser berichten, dass die Zahl der Gewaltdelikte mit 197 000 im Vergleich zum Vorjahr um fast 20 Prozent angestiegen ist. Hohe Anstiege gab es auch bei Taschendiebstählen, Ladendiebstählen und Wohnungseinbrüchen.
Eine Erklärung für die steigenden Fallzahlen in diesen Kriminalitätsfeldern konnten Innenministerin und Bundeskriminalamt allerdings auch direkt liefern. Es handele sich um Nach-Corona-Effekte. BKA-Präsident Holger Münch erklärte: »Die für 2022 registrierten Zahlen zur Kriminalität in Deutschland sind nur bedingt mit denen aus den beiden Vorjahren vergleichbar, denn die Corona-Maßnahmen haben auch das Kriminalitätsgeschehen stark beeinflusst.« In Relation zu 2019, dem letzten Jahr vor der Pandemie, lägen die Zahlen auf einem vergleichbaren Niveau. Das relativiere den »im Vergleich mit 2021 zu konstatierenden starken Anstieg«.
Auch andere Zahlen wirken auf den ersten Blick erschreckender, als sie wohl wirklich sind. So ist bei Bedrohungen ein Anstieg von 28 Prozent im Vergleich zum Vorjahr verzeichnet. Im Vergleich zu 2019 ist die Zahl der Bedrohungen sogar um über 60 Prozent gestiegen. Ursächlich hier dürfte, und das wird auch in der Statistik eingeräumt, die Verschärfung des Straftatbestands der Bedrohung im Jahr 2021 gewesen sein. Bis dahin musste mit einem Verbrechen gegen eine Person gedroht werden. Jetzt reicht es aus, eine rechtswidrige Tat anzukündigen. Zudem wurde eine Strafverschärfung für öffentliche Drohungen,
Drohungen auf Versammlungen oder durch Verbreiten bedrohlicher Inhalte in das Gesetz aufgenommen.
Für deutlich mehr Straftaten als in der Vergangenheit sollen auch Kinder verantwortlich sein. 93 000 Kinder haben sich nach der Kriminalstatistik im vergangenen Jahr strafbar gemacht. Das wäre auch im Vergleich zum Jahr 2019 ein deutlicher Anstieg von über 16 Prozent. Auch hier vermutet das Bundeskriminalamt einen Nachholeffekt aus der Corona-Pandemie, erklärt aber auch, dass sich »Kausalitäten« nicht durch die Polizeiliche Kriminalstatistik abbilden ließen.
Einen Teil der Straftaten, die von Kindern und Jugendlichen begangen werden, nehmen auch der Besitz und die Verbreitung von jugend- und kinderpornografischen Materialien ein. Dieser stieg um sieben Prozent. Hierfür sind einerseits Gesetzesverschärfungen verantwortlich und, wie es das Innenministerium in seiner Mitteilung zur Kriminalstatistik selbst schreibt, die fehlende »Kenntnis eines strafrechtlichen Hintergrundes, Bilder in Gruppenchats« zu teilen. Hier müsse durch »Bildung, Sensibilisierung und Medienkompetenz, die vermittelt werden muss«, in der Prävention nachgebessert werden. Dass die reinen Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik nicht besonders aussagekräftig sind, ist seit Jahren bekannt. Gesetzesänderungen sind dabei nur ein Faktor. Gesellschaftliche Debatten können auch zu einem sich verändernden Anzeigeverhalten führen. Andere Straftaten, etwa die Zahl ausländerrechtlicher Verstöße, die 2022 auch angestiegen sind, hängen damit zusammen, wie viele Menschen nach Deutschland fliehen.
Die Grüne Innenpolitikerin Irene Mihalic hält die Statistik für wenig aussagekräftig. In einem Tweet fasst sie ihre Meinung so zusammen: »Alle Jahre wieder geht die Deutungsschlacht zur Polizeilichen Kriminalstatistik wieder los. Ist Deutschland nun sicher oder nicht? Gute Frage! Nur die Antwort darauf wird man nicht in der PKS finden.« Ein Kritikpunkt, den es an der Statistik seit Jahren gibt, ist auch, dass sie nur Strafverfahren misst, die von der Polizei an die Staatsanwaltschaften weitergegeben werden. Wie und ob jemand, der einer Tat beschuldigt wird, verurteilt wird, taucht in der Statistik nicht auf.
Trotzdem ist die Kriminalstatistik auch in diesem Jahr Anlass für Forderungen nach mehr Befugnissen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser nimmt die Gewalttaten gegen Frauen zum Anlass, um mehr Videoüberwachung des öffentlichen Raumes zu fordern. »Wir brauchen mehr Präsenz von Sicherheitskräften in öffentlichen Verkehrsmitteln und an kriminalitätsbelasteten Orten – und mehr Videoüberwachung«, so die Sozialdemokratin. Gleichzeitig verspricht sie, dass frauenfeindliche Straftaten in der Kriminalstatistik künftig genauer erfasst und ausgewertet werden.
Die Gewerkschaft der Polizei zieht aus der Kriminalstatistik den Schluss, dass eine »erfolgreiche Bekämpfung der Messerkriminalität« ein umfassendes Maßnahmenpaket von Bund und Ländern erfordere. Die Polizeigewerkschaft wünscht sich mehr Kontrollmöglichkeiten. In manchen Städten gebe es effektive Waffenverbotszonen. Aber man müsse in Zügen, auf Bahnhöfen und »wo viele Menschen zusammenkommen«, die Möglichkeit haben, Personenkontrollen und Personendurchsuchungen durchzuführen.
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