• Kultur
  • Ausstellung »Christina Quarles. Collapsed Time«

Subversive Akte

Die collagenartigen Aktmalereien von Christina Quarles verweigern sich der Zuordenbarkeit von Geschlecht. Gerade sind sie im Hamburger Bahnhof in Berlin zu sehen

  • Geraldine Spiekermann
  • Lesedauer: 5 Min.
Quarles' gemalte Körper interagieren miteinander, erscheinen fast nie isoliert. Hier: »We Can Require No Less of Ourselves«, 2019, Acryl auf Leinwand.
Quarles' gemalte Körper interagieren miteinander, erscheinen fast nie isoliert. Hier: »We Can Require No Less of Ourselves«, 2019, Acryl auf Leinwand.

Auf den ersten Blick zeigt die Ausstellung »Christina Quarles. Collapsed Time« im Hamburger Bahnhof in Berlin eine raumgreifende Installation zeitgenössischer Aktmalerei. Frei von jeder Narration oder konkreter Bildhandlung schmiegen sich die biegsamen Körper eng aneinander, lehnen sich an die äußere Begrenzung des Formats an oder lassen sich von der Bildgrenze sanft beugen. Die elongierten Gliedmaßen verändern dabei in mannigfaltiger Weise ihre Form, Gestalt und Oberfläche, die Haut bekommt serielle Muster und eine neuartige Textur. Wandelbare Körper erscheinen als Silhouetten, Leerstellen, Schatten oder Verdopplungen ihrer selbst, sie fließen ineinander über oder grenzen sich partiell voneinander ab. Fragmentiert, in sich neu zusammengesetzt oder seltsam verformt interagieren sie mit anderen Körpern oder den Oberflächen im oft nur angedeuteten Raumgefüge. Selten nur sind die Akte einheitlich oder eindimensional, fast nie erscheinen sie isoliert.

Obwohl im Werk der 1985 in Chicago geborenen Quarles neben nackten Körpern und grafischen Mustern keine Symbole oder Attribute auszumachen sind, kann hier ein Horizont oder dort ein Naturelement entdeckt werden: eine Blume oder ein Gestirn, vor allem wenn ein Bildtitel darauf verweist (»Vulgar Moon«, 2016). Allerdings kippt das Landschaftsmotiv vexierbildartig zu einem Innenraum mit Lampenlicht, wird der schwarze Blumenteppich aufgrund seiner Farbe und geometrischen Begrenzung eher als Tischdecke oder Teppich gesehen. Die Mehrdeutigkeit ist durchaus gewollt und wird durch die malerische Technik noch intensiviert.

Nur vor den Originalen lässt sich erkennen, dass auf der stets ungrundierten Leinwand einige Partien schablonenartig durch Abkleben erstellt worden sind und ein erhabenes hochglänzendes Finish erhalten. An anderen Stellen wurde hochverdünnte Farbe lasierend aufgetragen. Zarte Schlieren laufen tropfenartig entlang der Körperkonturen. Die leuchtenden Farben werden von Quarles noch im flüssigen Zustand partiell abgekratzt, mit breiten Bürsten mager verteilt, direkt auf der Leinwand vermischt oder rein verwendet. Durch einen komplexen und differenzierten Einsatz der Acrylfarbe, ein variables Spiel der Texturen und Farbverläufe sowie irritierende Leerstellen auf der puren Leinwand entsteht der verblüffende Eindruck einer komplexen Collage. Und doch ist es reine Aktmalerei.

Innerhalb der Ausstellung ist der Blick auf diese Bilder und jene sieben Werke anderer Künstlerinnen und Künstler, die Quarles aus der Sammlung der Neuen Nationalgalerie zusätzlich für einen visuellen Dialog ausgewählt hat, allerdings nicht immer gegeben. Diagonal in die Raumecken positionierte Stellwände, die mit semitransparentem Gazestoff bespannt sind und lichtdurchlässigen Kulissen aus dem Theater ähneln, lassen einen oft nur diffus verschleierten Blick auf die Werke zu. Zuweilen gibt es einen Sehschlitz, dann muss der eigene Standpunkt, die Positionierung im Raum, also die eigene Perspektive aktiv verändert werden, um einen nur fragmentarischen und momentanen Eindruck auf das Dahinterliegende zu erhaschen.

Im Englischen ist »gaze« gleichbedeutend mit »Blick«. In der feministischen Theorie wird insbesondere der »male gaze«, also der männliche Blick auf den weiblichen Körper, kritisch verhandelt. Obwohl Quarles die geschlechtliche Zuordnung der Körper in ihren Gemälden bewusst offenhält, hat sie festgestellt, dass mit ihren Gestalten meist ein weibliches Geschlecht und Jugend assoziiert wird. Da in der westlichen Aktmalerei erotisch inszenierte Frauen das häufigste Motiv sind, verlassen wir uns offenbar auf unser gewohntes Sehen, statt Ambiguität zuzulassen. Quarles gibt allerdings zu bedenken, dass auch Gesundheitsprobleme, das Lebensalter oder divergierende Körpergewichte mehr oder weniger fleischliche Brüste, wie sie auf manchen Gemälden zu sehen sind, entstehen lassen können – ganz unabhängig vom Geschlecht. Beziehen wir also beim Betrachten andere mögliche Positionen mit ein und reflektieren aktiv unseren eigenen Standpunkt, hebt sich der Schleier und wir erhalten einen vollkommen neuen Blick (»gaze«) auf den jeweiligen Körper.

Allein auf der Oberfläche des Körpers zeigt sich durch die Ab- und Anwesenheit von Zeichen dasjenige Konstrukt, das gemeinhin als Identität gelesen wird: Alter, Hautfarbe, Geschlecht. Und wir erfahren durch unser Gegenüber, wie wir gelesen werden: Unser Körper wird als alt gesehen, obwohl wir uns jung fühlen oder als gesund, obwohl wir an Depressionen leiden. Wir werden mit falschem Pronomen angeredet oder als Ausländer*innen, obwohl wir hier geboren sind. Diese negativen Aspekte der kulturellen Einschreibung, die häufig als verletzend und fremdbestimmt erlebt werden, hat Quarles bereits als Kind auf dem Schulhof erfahren. In vielen Großstädten fragen Kinder aus Neugierde andere Kinder, woher man kommt oder wie die eigene Familie beschaffen ist. Die sommersprossige Quarles antwortete auf solche Fragen, ihre Mutter sei weiß und ihr Vater schwarz, woraufhin die Kinder riefen: »Das stimmt nicht, du lügst, du bist nicht schwarz.« Bis heute wird die Künstlerin von Außenstehenden gewöhnlich als weiß gelesen.

Aus der Erfahrung heraus, dass die eigene Identität nicht mit den Erwartungen anderer übereinstimmt und dass sie nicht immer eindeutig auf den ersten Blick zu erkennen ist, liegt positiv gewendet auch eine gewisse Freiheit, die Brüche und Widersprüche zu nutzen, um subversiv kulturelle Normen zu unterlaufen und verkrustete Denkweisen aufzubrechen. Quarles versucht, im klassischen Kanon der Aktmalerei eine rein visuelle Bildsprache für diese Erfahrung zu finden, indem sie schillernde, multidimensionale Körperbilder entwirft, deren Komplexität sich über die gestische Abstraktion nicht eindeutig fixieren lässt und offen bleibt für Blickwechsel.

»Christina Quarles. Collapsed Time«, bis zum 17. September, Hamburger Bahnhof, Berlin. Begleitend erscheint eine gleichnamige Publikation (Deutsch/Englisch) im Mailänder Verlag Silvana Editoriale.

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