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Armut: Eine Begegnung mit Folgen

Olivier David schreibt einen Brief an die Aktivistin Genoveva Jäckle

  • Olivier David
  • Lesedauer: 3 Min.

Liebe Veva!

Ich muss immer wieder an unsere Begegnung vor ein paar Wochen in Köln denken, wo wir beide von einem Fernsehsender für eine Formatentwicklung zum Thema Armut eingeladen wurden. Es gab an dem Tag eine Situation, für die ich mich im Nachhinein schäme.

Olivier David
Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien sein erstes Buch »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen reflektiert. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. David studiert in Hildesheim literarisches Schreiben. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Wir waren gerade zur Mittagszeit im Restaurant angekommen, als du sagtest, dass du dein Essen nicht in dem Restaurant einnehmen könntest, da du zu einer Corona-Risikogruppe gehörst. Den ganzen Tag über trugst du deine FFP3-Maske, und sie für das Essen neben uns abzunehmen, war dir zu riskant. Du bist dann zum Essen alleine hinausgegangen, während wir anderen sitzen blieben.

Im Nachhinein verstehe ich, warum ich nicht mit hinausgegangen bin, obwohl es mir inzwischen unangenehm ist. Die anderen Teilnehmer*innen des Workshops waren größtenteils ebenfalls Journalist*innen. Und noch mehr als die geteilte Armutserfahrung in der Kindheit wog in diesem Moment unsere Erfahrung oder Identität als Journalist*innen in der Medienbranche.

Alle, die wir an dem Workshop teilnahmen, hatten gemein, dass wir in unserer Kindheit und Jugend arm waren oder es immer noch sind. Aber die meisten von uns sind dazu noch Journalist*innen, und das bestimmte viel wesentlicher unseren Alltag: die Frage, was die Arbeit der anderen war, das Austauschen über mediale Phänomene und so weiter.

Und dieser Punkt bringt mich zu einem Gedanken, den ich in letzter Zeit öfter habe, wenn in den Medien mal wieder von Repräsentation die Rede ist. Versteh mich nicht falsch, ich bin kein Feind von Repräsentation. Im Gegenteil: Mir haben in meiner Jugend, aber auch im Erwachsenenalter die Zugänge zu Debatten und Medienkonsum gefehlt, auch weil ich das Gefühl hatte, dass die Inhalte von Zeitungen und Fernsehsendern nichts mit meinem Leben zu tun hatten.

Aber wenn ich sehe, dass die Repräsentation von Arbeiterkindern in den Medien als Allheilmittel für Gerechtigkeit angesehen wird, empfinde ich es als falsch. Es gibt in den Medien und in der Politik so viele Beispiele von Arbeiterkindern, die eben nicht solidarisch an der Seite der Armen stehen, sondern von ihrer Erfahrung, es aus der Armut heraus geschafft zu haben, so eingenommen sind, dass sie glauben, diese Schranken könne jede*r überwinden.

Ich frage mich mit Blick auf diesen Tag in Köln, wie dir die Situation vorgekommen ist. Ob du dich »uns« Journalist*innen zugehörig gefühlt hast. An dem Tag habe ich neben deinen Ideen und Beiträgen nicht viel von dir mitbekommen. Was ich weiß, ist, dass du unter #ichbinarmutsbetroffen im Internet deine Stimme erhebst und so für eine gerechtere Welt kämpfst.

Dein Engagement finde ich bewundernswert. In deinem Alter hatte ich für meine Erfahrungen keine Sprache. Ich hatte ein diffuses Unrechtsbewusstsein. Mich so dezidiert für meine Rechte – und die Rechte der Marginalisierten – einzusetzen, das war mir nicht möglich.

Wenn ich mir Tweets unter #ichbinarmutsbetroffen anschaue, dann habe ich den Eindruck, dass das Schreiben darüber ein Gefühl der Selbstermächtigung sein muss. Nein, anders, ich habe nicht den Eindruck, ich glaube zu wissen, dass es selbstermächtigend ist. Denn ich schreibe ja ebenfalls zum Thema Ungleichheit und Armut, und mir hat diese Arbeit geholfen zu verstehen, unter welchen Ungerechtigkeiten ich leiden musste.

Was ist es bei dir, dass dich trotz der Beschämung, die du und andere Aktivist*innen in den sozialen Medien erfahren, durchhalten und dich gegen Armut einsetzen lässt?

Herzlichst!

Dein Olivier

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