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Lulas Balanceakt
Viele Kompromisse, leere Staatskassen, viele Gegner – die ersten 100 Tagen waren für Brasiliens Präsidenten dennoch erfolgreich
Der Start von Lula da Silva in seine dritte Amtszeit war holprig. Nach seinem knappen Wahlsieg Ende Oktober vergangenen Jahres musste der ehemalige Gewerkschaftsführer all sein Verhandlungsgeschick aufwenden, um die neue Regierung auf stabile Füße zu stellen. Das bedeutete schmerzhafte Kompromisse und auch personelle Zugeständnisse an Parteien weit rechts von seiner Arbeiterpartei PT. Inhaltlich blieb Lula jedoch auf dem im Wahlkampf versprochenen Kurs: mehr Geld für Soziales und Gesundheit, Priorität für Umwelt- und Klimaschutz sowie staatliche Maßnahmen gegen Ausgrenzung und Diskriminierung. Es ist ein täglicher Balanceakt, bei dem obendrein noch ein weiteres Ziel zügig erreicht werden muss: eine stabile Wirtschaft mit mehr Arbeitsplätzen und steigenden Steuereinnahmen. Sollte dies nicht gelingen, droht eine erneute Mobilisierung der Anhänger*innen seines rechtsextremen Vorgängers Jair Bolsonaro und der Rückfall in Polarisierung und Konfrontation.
Angesichts dieser Ausgangslage fällt die Bilanz nach 100 Tagen Lula-Regierung positiv aus. Es ist die dritte Amtszeit des 77-Jährigen, nachdem er im Jahr 2002 erstmals eine linke Partei in Regierungsverantwortung brachte. Mit sozialdemokratischer Politik, einem nachfrageorientierten Wirtschaftskurs und dem international gepriesenen Null-Hunger-Programm »Fome Zero« machte Lula aus Brasilien eine dynamische Regionalmacht, die eine zentrale Rolle bei der ersten Welle fortschrittlicher Regierungen in Lateinamerika zu Beginn dieses Jahrhunderts spielte.
Doch dieser vorsichtige Umbau der Gesellschaft war nicht nachhaltig, sodass es den konservativen Kräften in Folge einer Schmutzkampagne der Massenmedien gelang, Lulas Nachfolgerin Dilma Rousseff 2016 unter fadenscheinigen Vorwürfen aus dem Amt zu drängen. Die politische Orientierungslosigkeit jener Zeit nutzte der Ex-Militär und langjährige Parlamentshinterbänkler Bolsonaro für seine erfolgreiche Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2018. Dieser setzte mit Fake News und Hassdiskursen auf eine Spaltung der Gesellschaft und begann, Rechtsstaat und Demokratie auszuhebeln.
»Brasilien, ein Land im Wiederaufbau«, lautet der Slogan, mit dem viele Werbespots der Regierung Lula enden. Was sich wie eine Provokation anhört, ist bitterer Ernst. Bolsonaro ist es tatsächlich gelungen, das funktionierende gesellschaftliche Gefüge in Ansätzen zu zersetzen, basisdemokratische Initiativen auszubremsen und ein teils gewalttätiges Gegeneinander – und damit auch Sprachlosigkeit untereinander – zu einem Merkmal des brasilianischen Alltags zu machen. Lula, der als Folge der Schmutzkampagne gegen die PT wegen angeblicher Korruption selbst 580 Tage im Gefängnis verbrachte, weiß sehr genau, dass er viel Fingerspitzengefühl mitbringen muss, um Brasilien wieder zu einem geeinten und funktionierenden Land zu machen und zugleich der politischen Polarisierung einen Riegel vorzuschieben.
Schon Wochen vor seinem Amtsantritt am 1. Januar 2023 startete Lula die Sondierungen für die Regierungsbildung. Seite Mitte-links-Parteienkoalition steht sowohl im Parlament wie im Senat einer deutlichen konservativen Mehrheit gegenüber. Mit Zugeständnissen im Finanzbereich und der Überlassung mehrerer Ministerien gelang es der PT, mehrere Parteien aus dem Mitte-rechts-Spektrum zumindest für eine punktuelle Zusammenarbeit zu gewinnen. Diesen erhandelten politischen Spielraum nutzte die Regierung bereits zu Jahresbeginn, um in Bereichen wie Haushaltspolitik und der Besetzung wichtiger Kommissionen handlungsfähig zu werden.
Dieses erfolgreiche Aushandeln wurde allerdings dadurch begünstigt, dass es auf Seiten der Opposition an Gegenoptionen mangelte: Zum einen ist die traditionelle, unternehmensnahe Rechte durch herbe Wahlverluste 2018 und 2022 als Machtoption weitgehend weggefallen und setzt zumindest bisher auf einen Schulterschluss mit Lula, um die Demokratie zu verteidigen. Und der extremen Rechten von Bolsonaro und seiner Liberalen Partei PL ist es seit der Wahlniederlage nicht gelungen, sich als politische Kraft mit neuer Rolle zu profilieren.
Dass es Bolsonaro und seiner Basis bisher nicht gelungen ist, politisches Kapital aus seinen 49 Prozent Stimmenanteil im zweiten Wahlgang zu schlagen, ist weitgehend selbstverschuldet. Ende Dezember setzte sich der Noch-Präsident nach Florida ab, um Lula nicht die Präsidentenschärpe übergeben zu müssen. Und womöglich aus Angst vor juristischen Konsequenzen seiner Amtszeit – sei es wegen windiger Geldgeschäfte seiner Familie oder wegen den inzwischen 700 000 Toten in Folge von Covid 19 und seinem fahrlässigen Umgang mit der Pandemie. Erst Ende März kehrte er zurück und verkündete vorsichtshalber, er werde sich nicht als Oppositionsführer engagieren. Doch schon am 8. Januar versuchten radikale Bolsonaristas ein Comeback, stürmten – begleitet von wohlwollenden Polizisten und Militärs – das Regierungsviertel und zerstörten Gebäude und Einrichtungen.
Die Bilder des Vandalismus brachten Lula und seine Regierung in die Offensive, da sich, von einigen radikalen evangelikalen Pastoren abgesehen, niemand in der politischen Welt traute, das traurige Spektakel zu verteidigen. Lula nutzte die Gunst der Stunde für einige Umbesetzungen im Militär, besetzte alle Polizeispitzen neu und machte glaubhaft deutlich, dass es mit dieser Seite des politischen Spektrums keine Kompromisse geben werde. Bisher hält der Konsens seitens der Mehrheit in der Hauptstadt Brasilia, dass die Demokratie verteidigt werden muss und dass die Regierung Lula derzeit die einzige Option dafür ist.
Natürlich ist es unvermeidlich, dass es immer wieder zu Fehlern in der Kommunikation und zu Unstimmigkeiten in der durch Lula wieder enorm erweiterten Minister*innenriege kommt. Diesen Problemen stehen Momente entgegen, in denen es dem neuen Staatschef durchaus gelingt, sich vom aggressiven Diskurs seines Vorgängers zu unterscheiden. Als im Januar eine humanitäre Katastrophe mit vielen Hungertoten der Ethnie der Yanomami im Amazonasgebiet bekannt wurde, reiste er sofort dorthin und startete eine Reihe von Maßnahmen gegen die unter Bolsonaro alltäglichen Verletzungen ihres Schutzgebietes. Und nach starken Regenfällen im Bundesstaat São Paulo trat Lula im Februar gemeinsam mit dem Gouverneur und ehemaligem Bolsonaro-Minister Tarcísio de Freitas auf, um die Not vor Ort zu lindern. »Nicht unsere Differenzen müssen uns interessieren, sondern das Wohl der Menschen«, sagte Lula an der Seite von Tarcísio – eine deutliche Botschaft gegen das Politikverständnis der Rechtsextremen, die in sozialen Netzwerken den Gouverneur von São Paulo sofort des Verrats geißelten.
Lula ist es gelungen, nach drei Amtsmonaten eine breit aufgestellte, handlungsfähige Regierung zu bilden. Er arbeitet daran, bei unzähligen Themen Brasilien in eine andere Richtung zu lenken. Trotz einigem Murren ob der zahlreichen Kompromisse halten seine Unterstützer*innen im linken Spektrum bislang still. Schwieriger ist die Balance mit den rechten Partnern im Kongress. Dort könnte das Bündnis brechen, wenn wichtige, inhaltlich kontroverse Abstimmungen anstehen oder einige Politiker den Preis ihrer Zustimmung derart in die Höhe treiben, dass Lulas Partei PT nicht mehr mitspielen kann.
Der heikelste Bereich ist hierbei die Wirtschaftspolitik. Die Bereitschaft der traditionellen Rechten, Lula um der Demokratie Willen zu unterstützen, ist bei diesem Thema eng begrenzt. Dies zeigt sich gerade bei dem wochenlangen Tauziehen um die Zinspolitik. Lula kritisiert energisch, dass Brasilien mit Abstand den weltweit höchsten Realzins hat, während die Rechte die Unabhängigkeit der Zentralbank verteidigt. Deren Chef wurde noch von Bolsonaro eingesetzt und pocht auf das neoliberale Dogma einer Inflationsbekämpfung durch hohe Zinsen. Es interessiert ihn nicht, dass die hohen Zinsen auch aufgrund der Staatsverschuldung zu einer Milliardenbelastung des Haushalts führen und dadurch Mehrausgaben im Sozialbereich verhindern.
Anders als in seiner ersten Amtszeit ab 2002 fehlt es der Regierung Lula an Geld für eine ambitionierte Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik, die seine Wähler*innen erwarten und auch einen Teil der Bolsonaristas zurückgewinnen könnte. Und es fehlt an politischer Macht, um die Staatskasse wieder zu füllen – sei es mittels einer Steuerreform auf Kosten der Besserverdienenden oder einer Finanzpolitik, die Investitionen fördert statt hohe Erträge auf unproduktiven Sparbüchern. Das breite Wohlwollen, das Lula auf internationalem Parkett auch wegen seiner Klimapolitik entgegenschlägt, fehlt ihm zu Hause. Sein Balanceakt wird also weitergehen, und hoffentlich ist allen bewusst, dass unter dem Seil kein Netz gespannt ist.
Andreas Behn leitet das Regionalbüro Brasilien-Paraguay der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er lebt seit vielen Jahren in Brasilien, berichtete von dort für deutsche Zeitungen und Nachrichtenagenturen. Zudem arbeitete er in Brasilien unter anderem für den Evangelischen Entwicklungsdienst und das Bildungswerk des DGB. Der hier veröffentlichte Text erschien zuerst auf der Internetseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
www. rosalux.de
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