Berliner Verkehrswende: Ein Pedaltritt vorwärts, zwei zurück

Befürworter der Verkehrswende befürchten »Rückschritte nach vorgestern« des neuen Senats

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 4 Min.

»Radfahrer absteigen«, »Achtung Baustelle« – an seinem Hänger hat ein Mann verschiedene Symbole und Straßenschilder befestigt. »Das sind einige der Hindernisse, die uns seit Jahren im Straßenverkehr begegnen und behindern«, erklärt er. Er ist am Ostersamstag Teilnehmer einer Fahrraddemonstration, mit der die Verkehrswendeorganisation Changing Cities gegen eine Aufweichung des Mobilitätsgesetzes in die Pedale tritt. Am Auftaktort am Potsdamer Platz versammeln sich zunächst etwa 150 Radfahrer*innen, doch auf der mehr als dreistündigen Tour schließen sich noch weitere an.

Der Koalitionsvertrag gefährde die Verkehrswende in Berlin, erklärt Stefan Lehmkühler von Changing Cities unter Applaus. Das Mobilitätsgesetz solle für ein »besseres Miteinander« weiterentwickelt werden, heißt es im Koalitionsvertrag. Was auf den ersten Blick nett klinge, sei tatsächlich eine Abkehr vom Vorrang des Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehrs, den das Mobilitätsgesetz fordere. In Zukunft solle das Auto wieder priorisiert werden, warnt Lehmkühler von der Bühne. Buhrufe sind die Reaktion der Zuhörer*innen.

Gegenüber »nd« präzisiert Ragnhild Sørensen von Changing Cities. »Kai Wegner hat gesagt, dass er eine der Standardbreiten von 2,30 Meter für Radwege für sinnlos und übertrieben erachtet. Konkret heißt das, dass die Koalition nicht vorhat, die Standards aus dem Radverkehrsplan, dem die SPD zugestimmt hat, einzuhalten«, kritisiert die Sprecherin den zukünftigen Senat unter Kai Wegner (CDU). Mit Ampelschaltungen wolle die Koalition die »Verkehrssicherheit und Leistungsfähigkeit für alle Verkehrsträger« erhöhen. Doch Sørensen fragt sich, wie das gehen soll. »Ampelschaltungen geben entweder dem Fuß- und Radverkehr Vorrang oder dem motorisierten Individualverkehr. Alle gleichzeitig zu priorisieren, ist nicht möglich«, kritisiert Sørensen. »Vor allem nicht, wenn man Tempo 50 als Regelgeschwindigkeit beibehält, wie es im Koalitionsvertrag steht.« 

Doch die Liste der Punkte, bei denen Sørensen ein Aufweichen des Mobilitätsgesetzes befürchtet, ist noch länger. »Wenn die Sanierung Priorität vor neuen Radwegen hat, bleiben die Lücken in der Radinfrastruktur erhalten und den Menschen wird das Radfahren weiterhin erschwert«, moniert sie. In Wohnvierteln solle zudem der Durchgangsverkehr vermindert, aber nicht unterbunden werden. Auch die geplante Fertigstellung der Tangentialverbindung Ost greift Sørensen an. Dadurch würden große Waldflächen zerstört und dem Auto mehr Flächen zur Verfügung gestellt. 

Dabei hatte Sørensen auch an der Verkehrspolitik des rot-grün-roten Senat einiges auszusetzen. »Unser Monitoring von Anfang des Jahres hat gezeigt, dass in den ersten fünf Jahren des Mobilitätsgesetzes nur 4,2 Prozent des Radnetzes fertiggestellt wurden. Bis 2030 müssen also 96 Prozent noch auf die Straße kommen«, blickt sie auf die rot-grün-rote Regierungszeit zurück. Die Pläne, die SPD und CDU jetzt anstreben, sind für sie ein Rückschritt in die 70er Jahre, als die »autogerechte Stadt« zum Leitbild erhoben wurde. Dieses Konzept von vorgestern sei angesichts des Klimawandels für eine internationale Metropole wie Berlin eine Katastrophe.

»Wer zieht heute in eine Stadt voller Autolärm und dreckiger Luft, wenn andere Metropolen lebenswerten urbanen Raum vorzeigen können? Der Unwille, den Klimawandel ernst zu nehmen und rechtzeitig die Stadt umzubauen, macht aus Berlin eine menschenfeindliche Stadt«, so die Kritik der Verkehrswendeaktivistin. Neulich habe sie im Gespräch mit einem kanadischen Journalisten von den Plänen zum Ausbau der A100 erzählt. »Den Fehler machten wir auch vor 20 Jahren, aber heute doch nicht mehr«, sei seine Antwort gewesen.

Auf der Abschlusskundgebung der Fahrraddemonstration vor dem Willy-Brandt-Haus spart ein Vertreter des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) dann auch nicht mit SPD-Schelte. Er wirft der Partei vor, für den Erhalt von Parkplätzen für Autos zu kämpfen und Fahrradfahrer*innen und Fußgänger*innen mit einigen Krumen abzuspeisen.

Er zählt auch einige wenige positive Beispiele wie die Bülowstraße auf, auf der vor kurzer Zeit ein Verkehrskonzept umgesetzt worden sei, das Fahrradfahrer*innen und Fußgänger*innen nicht in Gefahr bringe. Dagegen stünden viele andere Straßen, die »No-go-Areas für Fußgänger*innen und Fahrradfahrer*innen« seien, so der Redner. Die Umsetzung der Pläne von SPD und CDU würde die Zahl der Verkehrstoten und der Verletzten in die Höhe treiben, so seine Befürchtung. Seine engagierte Rede beendet er mit einem Versprechen, das für die SPD auch als Drohung aufgefasst werden könnte: »Wir kommen wieder.« Für die nächsten Wochen planen die Verkehrswendeaktivist*innen weitere Fahrraddemonstrationen und ein Camp. Neben Berichten von Klimaaktivist*innen aus verschiedenen Städten steht auch die Planung von gemeinsamen Aktionen auf der Agenda. Jede Regierung in Berlin werde mit diesen Protesten in den nächsten Monaten konfrontiert sein, sind sich die Mitglieder von Changing Cities sicher.

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