- Berlin
- Zivilcourage
Rassistischer Angriff auf Dilan S.: Niemand griff ein
Im Prozess um den rassistischen Angriff auf Dilan S. vor einem Jahr in Berlin rechtfertigen Zeugen ihre Untätigkeit
Der letzte Zeuge gibt es zu: »Sie haben alle geguckt, aber keiner macht was.« Auch Christian W. schritt nicht ein, als am 5. Februar 2022 eine Gruppe von sechs Erwachsenen die damals 17-jährige Dilan S. an der Tramhaltestelle Greifswalder Straße mutmaßlich angriff und zusammenschlug. Er habe auf der Wartebank gesessen. »Ich hätte gerne geholfen, aber bei sechs Leuten und wenn man was am Knie hat…«, sagt der sichtlich humpelnde Mann am Montag im Amtsgericht Tiergarten.
Vier Zeug*innen berichten am zweiten Prozesstag von ihrer Erinnerung an den Tathergang. Angeklagt wegen Beleidigung, Bedrohung, gefährlicher Körperverletzung und Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung sind drei Frauen und drei Männer, die antifaschistischen Recherchen zufolge der rechtsextremen Szene rund um die Greifswalder Straße angehören. Sie sollen Dilan S. in der Tram M4 rassistisch angegangen und anschließend an der Haltestelle verprügelt haben.
Dass es sich bei den Angeklagten um die tatsächlichen Täter*innen handelt, dafür spricht bereits einiges. Zum ersten Prozesstag sichtete das Gericht ein Überwachungsvideo aus der Straßenbahn, das die Angeklagten zeigt, wie sie Dilan S. bedrängen. Am Montag bestätigt die Zeugin Susanne B., dass sie in der Tram auf die Auseinandersetzung aufmerksam wurde. Sie erinnert sich an zwei Reaktionen von S.: Diese habe die Erwachsenen gebeten, ihr nicht so nahezukommen oder wenigstens Masken aufzusetzen. Ein wenig später habe S. gesagt, dass sie keine Ausländerin sei und einen deutschen Pass habe.
Die Zeugin Jana P. berichtet darüber, was passierte, nachdem S. an der Station Greifswalder Straße ausgestiegen und die Gruppe ihr auf den Bahnsteig gefolgt war. »Ich habe gesehen, wie sie getreten und geschubst wurde, und gehört, wie sie rassistisch und fremdenfeindlich beleidigt wurde.« Sie habe auch einen Tritt von einer Frau mit Pferdeschwanz gesehen. P. erkennt Cornelia R. auf der Anklagebank wieder. Auch die übrigen Zeug*innen identifizieren unter den vier anwesenden Angeklagten R. als eine der tätlichen Aggressor*innen.
Die Zeug*innen erzählen dem Gericht allerdings nicht nur von der Tat. Sie gehen auch von sich aus auf die Frage ein, warum sie nicht einschritten. In einem Handyvideo, das S. kurz nach der Tat noch an der Tramhaltestelle aufnahm, fragte sie in Richtung der umstehenden Beobachter*innen: »Warum hat mir denn keiner geholfen und eingegriffen?« Die fehlende Zivilcourage sorgte zusätzlich zu dem rassistischen Angriff für öffentliches Entsetzen.
Zeugin B. sagt, sie habe die Situation in der Straßenbahn durchaus als bedrohlich wahrgenommen. »Ich habe mir schon Gedanken gemacht, ob ich auch aussteigen soll.« Aber die Tatverdächtigen hätten die Tram erst kurz vor knapp verlassen, auch hätten am Gleis viele Menschen gestanden. B. blieb also sitzen. Für Zeugin P. war es die Angst, die sie zu einer passiven Beobachterin auf der gegenüberliegenden Gleisseite gemacht habe: »Ich hatte starkes Herzklopfen und habe gedacht, ich will mich nicht in Gefahr bringen.« Eine dritte Zeugin, Lisa R., sieht rückblickend keine Möglichkeit für ein Eingreifen. »Natürlich stellt man sich nicht sechs Leuten direkt entgegen.« Stattdessen gibt sie der Betroffenen eine Teilschuld an dem Geschehen: »Ich hätte mich mehr rausgenommen, sie war schon ein bisschen streitlustig.«
Die Aussagen zeichnen ein Bild von Zeug*innen, die aus Angst, Fehleinschätzung, Ignoranz oder eigenem Rassismus eine rassistische Gewalttat geschehen ließen. Dilan S. wurde drei Tage lang im Krankenhaus wegen der Verletzungen behandelt und nimmt bis heute psychologische Hilfe in Anspruch.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.