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Das fast vergessene Lager

In Ohrdruf sollten Inhaftierte einen Unterschlupf für die Nazi-Elite schaffen. Dazu kam es nicht mehr

  • Sebastian Haak
  • Lesedauer: 8 Min.
Erinnern an den NS-Terror – Das fast vergessene Lager

Das Entsetzen über das, was er in diesen frühen Apriltagen vor 78 Jahren sieht, ist Dwight D. Eisenhower ins Gesicht geschrieben. Der Blick des Oberkommandierenden der alliierten Streitkräfte in Westeuropa ist starr auf die Eisenbahnschienen gerichtet, die die Nazis benutzt hatten, um eine Art offenes Krematorium zu bauen. Sie versuchten, zumindest einen Teil der sterblichen Überreste der Menschen zu verbrennen, die sie im Konzentrationslager Ohrdruf ermordet hatten. Verkohlte Skelette, deren menschliche Formen noch immer deutlich zu erkennen sind, liegen auf diesen Schienen.

In einem anderen Teil der Filmaufnahmen, die Kameraleute der US-Armee vom Besuch Eisenhowers an diesem Ort gemacht haben, geht der Fünf-Sterne-General an mehreren Leichen vorbei, die ihre Bewacher wohl kurz vor dem Eintreffen der GIs getötet hatten. Auch hier ist der Blick Eisenhowers starr. Er schaut auf den Boden zu den Ermordeten, als er nur wenige Zentimeter an ihnen vorüberschreitet.

In Eisenhowers berühmten Buch »Crusade in Europe« lässt sich nachlesen, wie ihn dieses Erlebnis erschüttert hat – auch noch Jahre nach seinem Besuch im Lager. Als er die übereinander gestapelten Leichen gesehen hatte und ihm der beißende Gestank der Verwesung in die Nase gestiegen war. Einige der Befreiten hatten ihm erzählt, wie sie gefoltert und ihre Kameraden ermordet wurden. Mit dem Konzentrationslager Ohrdruf, schreibt Eisenhower in seinen 1948 erschienenen Kriegserinnerungen, habe er erstmals ein solches »Horrorlager« mit eigenen Augen gesehen. »Ich war nie in der Lage, die Gefühle zu schildern, die mich überkamen, als ich zum ersten Mal einen so unbestreitbaren Beweis für die Brutalität der Nazis sah und einen Beleg dafür vor Augen hatte, dass sie sich selbst über die primitivsten Gebote der Menschlichkeit in skrupelloser Weise hinwegsetzten.« Bis dahin habe er nur im Allgemeinen oder von anderen gehört, dass es solche Orte gegeben habe.

In Ohrdruf aber habe er sich selbst davon überzeugt, dass diese Erzählungen wahr sind. »Nichts hat mich je so erschüttert wie dieser Anblick.« Deshalb, so der spätere Präsident der Vereinigten Staaten weiter, habe er jeden Teil des Lagers besichtigt, um als Augenzeuge von all dem berichten zu können, sollte es jemals Zweifel geben, dass solche Lager existierten, sollte die Geschichte dieser Orte jemals in zynischer Weise als Propaganda abgetan werden.

Bis heute ist das KZ Ohrdruf nicht zuletzt wegen des Besuchs Eisenhowers dort am 12. April 1945 in der US-amerikanischen Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg fest verankert. Das Lager war das erste, das westalliierte Truppen befreiten. Schon einige Tage vor der Ankunft Eisenhowers in Ohrdruf hieß es in einem Zeitungsartikel der »New York Times«, die 3. US-Armee habe in der Nähe von Ohrdruf, südlich von Gotha ein »Todeslager« überrannt. Am 4. April erreichten die Soldaten das KZ.

Dort seien 4000 Menschen von den Nazis getötet worden. US-Panzersoldaten hätten in dem Lager unter anderem die Körper von 77 Menschen gefunden, die erst am Tag zuvor ermordet worden seien. Unter diesen Toten sei auch ein US-Pilot mit polnischer Abstammung gewesen, den die Nazis mittels eines Genickschusses getötet hätten. Auch in diesem Text wird von einem Behelfskrematorium berichtet: »Asche und Arme und Beine anderer Opfer wurden im Umfeld eines Wald-Krematoriums gefunden, das sich ungefähr zwei Meilen vom Konzentrationslager entfernt befindet.«

Ganz anders dagegen die deutsche Erinnerung an den KZ-Komplex Ohrdruf, der als Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald gegründet worden war und den Decknamen »SIII« trug. Bis heute ist die Existenz dieses Ortes nicht im kollektiven Gedächtnis Deutschlands verankert. Nicht mal in Thüringen.

Wer weiß schon, dass das Lager ab November 1944 aus einem Nord- und einem Südteil, später zudem noch aus einem Zeltlager bei Espenfeld und einem Lager in Crawinkel bestand? Wem ist bewusst, dass dort bis Ende März 1945 insgesamt etwa 20 000 Häftlinge untergebracht waren, die ein unterirdisches Ausweichquartier für die Regierung Nazideutschlands bauen sollten? Wie viele Menschen wissen, dass in diesem Konzentrationslager nach Schätzungen von Historikern wahrscheinlich mehr als 7000 Menschen starben, ehe Angehörige der SS, des Volkssturms und der Hitler-Jugend die Überlebenden ab dem 1. April 1945 auf Todesmärschen durch Thüringer Dörfer trieben und dabei wohl noch einmal mehr als 1000 Menschen ermordeten. Marschunfähige Häftlinge des Nordlagers beispielsweise wurden von der SS unter dem Vorwand der Essensausgabe auf einem Appellplatz versammelt. Dann wurden sie erschossen und liegen gelassen. Wer weiß von diesem Massaker? In Thüringen wie auch sonst in Deutschland nur sehr wenige.

Neben der Tatsache, dass viele Menschen solche Geschichten heute nicht mehr wissen oder hören wollen, weil sie einen unmöglichen »Schlussstrich« unter die deutsche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus ziehen wollen, gibt es natürlich noch einen weiteren Grund für diese Leerstelle: Die Erinnerung an die Befreiung des Hauptlagers Buchenwald am 11. April 1945 ist in Deutschland – jedenfalls bei denen, die sich nach wie vor mit der NS-Geschichte auseinandersetzen – so dominant, dass sie die Erinnerung an die Existenz der zahlreichen anderen Konzentrationslager und deren Außenstandorte überlagert.

Schon seit Jahrzehnten ist das so, was auch ein Spiegelbild für die deutsche Erinnerungskultur an die Nazi-Diktatur insgesamt ist. Sie ist vor allem auf einige besonders eindringliche Begebenheiten der nationalsozialistischen Geschichte fokussiert und verliert dabei allzu oft aus dem Blick, dass große Teile der deutschen Bevölkerung die NS-Ideologie in den 1930er und 1940er Jahren mitgetragen haben und ihr in den 1950er und 1960er Jahren noch immer nachtrauerten.

Über Jahrzehnte hinweg haben sich zum Beispiel Schüler damit auseinandergesetzt oder auseinandersetzen müssen, welche Gräuel von verbrecherischen Organisationen wie der SS – also der Schutzstaffel – ausgegangen sind, wie die Gestapo – die Geheime Staatspolizei – Menschen gefoltert und ermordet hat, oder wie Funktionäre der NSDAP das öffentliche Leben in Deutschland nach 1933 gleichgeschaltet haben.

Doch wie viele »normale« Deutsche in der NS-Diktatur mitgemacht, sie stillschweigend unterstützt und im Alltag allzu oft weggesehen haben, das dringt erst seit wenigen Jahren und auch nur ganz langsam aus der Welt der akademischen Forschung in eine breitere Öffentlichkeit. Zunehmend muss man sich damit auseinandersetzen, dass die eigenen Groß- oder Urgroßeltern wahrscheinlich keine Widerstandskämpfer, sondern mit einer deutlich größeren Wahrscheinlichkeit Mittäter wären.

Bei der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha gibt es auch deshalb inzwischen ein Projekt, das den Titel »Deutsche Erinnerungslücke KZ Ohrdruf« trägt und das einen Erinnerungsort für die Opfer und die Überlebenden dieses Lagers schaffen will. »Das Projekt will insbesondere den 20 000 Menschen, die aus verschiedenen Ländern Europas verschleppt worden sind, das zurückgeben, was sie mit Eintritt ins Lager abgeben mussten: ihren Namen«, erläutert die Stiftung das Vorhaben, bei dem sie unter anderem mit den Arolsen Archives sowie der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora kooperiert. »Bei unserem Denkmalprojekt«, sagt dessen Leiter, Christoph Mauny, »geht es immer wieder darum, Nähe herzustellen, Beziehungen aufzubauen. Beziehungen zwischen Menschen. Beziehungen zwischen den Zeiten, zwischen den Toten und den heute Lebenden.«

Unter anderem sollen im Zuge des Projekts mit einer Aktionswoche, die vom 30. Mai bis zum 2. Juni 2023 läuft, die Namen von Häftlingen des KZ Ohrdruf und deren biografische Spuren digitalisiert werden, damit die Nachfahren der Opfer ihre Angehörigen über das Internet ausfindig machen können. Schulklassen sind deshalb dazu aufgerufen, sich an dieser Woche zu beteiligen.

Aktuelle Beziehungen stellt das Projekt auch mit einem Video her, das die Stiftung erst vor kurzem ins Internet gestellt hat. Es zeigt ein Zeitzeugengespräch mit einem der letzten Überlebenden des Lagers Ohrdruf. Dafür war eigens ein ukrainisches Filmteam beauftragt worden, um den 96-jährigen Petro Mischtschuk in dessen Heimat zu besuchen, die zum Zeitpunkt des Interviews bereits von Russland überfallen worden war.

Mischtschuk hat die Haft in mehreren Konzentrationslagern überlebt, darunter Auschwitz, Buchenwald, Sachsenhausen und eben Ohrdruf. Nachdem er auf einem Todesmarsch von US-Truppen befreit worden war, lief er zu Fuß von Deutschland zurück in die Ukraine.

In dem Interview ist zu sehen, wie sich Mischtschuk immer wieder an einem Gürtel festhält, der an einem Ende seines Bettes festgebunden ist. Er braucht diese Stütze inzwischen, um sich aufrichten zu können. Außerdem gibt der Gürtel ihm offenbar auch psychisch Halt, wenn er in seine eigene Vergangenheit eintaucht. Nur einige Filmminuten nach Beginn des Gesprächs ist er zornig darüber, dass die Nazis ihn als sogenannten »Ost-Arbeiter« zu einem Russen erklärt hatten. »Aber ich bin doch ein Ukrainer«, sagt er. »Ich wurde zum Russen gemacht, geschrieben.«

Irgendwann, erzählt Mischtschuk, nachdem amerikanische Bomben auf Weimar und dessen Umgebung gefallen waren, sei er von dort ins KZ Ohrdruf verlegt worden. »Das schrecklichste Lager war Ohrdruf ›SIII‹«, sagt der Mann, der zu diesem Zeitpunkt aufrecht in seinem Bett sitzt. Dort habe er die Nummer 105-105 zugeteilt bekommen. »Jeden Tag starben Menschen.« Er habe zu denen gehört, die das Lagergelände einzäunen mussten. Später habe er dabei geholfen, Stollen in einen Berg zu treiben und dabei Sprengstoff platzieren müssen. »Gearbeitet wurde rund um die Uhr.«

Was Mischtschuk auch beschreibt, ist, wie Häftlinge in Ohrdruf die Toten übereinanderstapeln mussten, unter den Augen von SS-Männern, die sie schlugen, wenn sie nicht schnell genug arbeiteten. Die Leichen seien in ein Zimmer gebracht worden, sagt er. »Wir legen sie auf einen Stapel, einen über den anderen. Wir haben kein Mitleid. Nichts. Wie, als wenn man Brennholz stapelt.«

Mit diesen Worten beschreibt der Mann vielleicht eine der Baracken, die Eisenhower auch sieht, als er bald nach der Befreiung des Lagers über das Gelände geht. Die US-Kameramänner, die ihn begleiten, drehen in diesen Gebäuden Bilder, die ausmergelte und zerschundene, tote Körper zeigen, die stumm und gestapelt übereinander liegen.

Manche der Toten starren mit leeren Augen nach oben. Bei anderen sind die Köpfe zum Boden gedreht. So, als wollten sie sich abwenden vom Schrecken dieses in Deutschland heute vergessenen Lagers.

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