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Nach dem Erdbeben: Wiederaufbau in der Stadt der Frauen
Vor allem Freiwillige aus dem linken Spektrum leisteten Hilfe nach der Katastrophe im Südosten der Türkei. Jetzt geht die AKP-Regierung gegen sie vor
Der Weg von Antakya nach Samandağ im Südosten der Türkei führt über eine Bergkette. Über die Serpentinen an den Hängen begibt man sich langsam in Richtung der Küstenstadt herunter. Kleinere Farm- und Reparaturbetriebe sowie einstöckige Häuser säumen die Straße. Hinter den Hügeln erstreckt sich eine Stadt mit rund 120 000 Einwohner*innen bis zum Meer.
»Diese Straße haben sie erst vorgestern wieder für den Verkehr geöffnet«, erklärt uns die Psychologin Mihriban Randa vom Fahrersitz des Autos. Kurze Zeit später müssen wir aber umkehren, denn die nächste Straße ist abgesperrt. Der Mann im Auto hinter uns wirft frustriert die Arme in die Luft, flucht. »Jeden Tag muss man hier anders fahren, das ist sehr nervenaufreibend«, sagt Randa. Wochenlang seien die Straßen wegen der eingestürzten und einsturzgefährdeten Häuser unbefahrbar gewesen, nun hätten zumindest in der Innenstadt die Aufräumarbeiten begonnen. Wir sind mitten im Erdbebengebiet, dort, wo in der Nacht des 6. Februar und dann nochmal am Nachmittag des 20. Februar die Erde mit einer solchen Gewalt bebte, dass kaum mehr ein Stein auf dem anderen blieb. Tagelang kam kaum staatliche Hilfe in die Stadt. Die Zerstörung in Samandağ wird, ähnlich wie in der Nachbarstadt Antakya, auf rund 80 Prozent geschätzt.
Wir parken an einem belebten Platz zwischen Zelten, Häuserruinen und Anhängern mit Bankautomaten und Toiletten. Es ist mehr eine Beton- als eine Grünfläche, sie heißt dennoch »Yeni Park« (der neue Park) und ist der inoffizielle Marktplatz von Samandağ. Trotz der offensichtlichen Gefahr, dass die nahestehenden, mehrstöckigen Gebäude jeden Moment einstürzen könnten, haben hier zahlreiche Überlebende ihre Notunterkünfte aufgestellt. Mittlerweile gibt es eine Suppenküche, organisiert von der Stadtverwaltung Kadiköy-Istanbul, aber es mangelt weiterhin akut an Trinkwasser und Sanitäranlagen. Frauen, die auf der Suche nach bestimmten Zelten, Kleidung oder medizinischer Versorgung sind, dominieren das Stadtbild. Hartnäckig hält sich an diesem Tag das Gerücht, der türkische Rote Halbmond (Türk Kızılay) habe ein Zelt aufgestellt, in dem Geld und Medizin verteilt würden. Bisher gibt es hier kaum staatliche medizinische Versorgung, die Infrastruktur wird überwiegend von Freiwilligen getragen.
Genau in der Mitte des Platzes steht ein großes Kuppelzelt. Ein gelb-rotes Banner weist den Ort als Solidaritäts- und Koordinationszentrum aus, daneben weht die Fahne der Toplumsal Özgürlük Partisi (Partei für gesellschaftliche Freiheit, TÖP). Sie ist Teil der Emek ve Özgürlük Ittifakki, des von der HDP geführten Bündnisses, das bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai antritt und mitten im Wahlkampf steckt. Ein junger Mann in grünem Pullover steht über den Tisch am Eingang des Zeltes gebeugt und bittet uns herein. Während Randa beginnt, sich mit weiteren Aktivist*innen auf ein geplantes Kinderprogramm im Nachbarzelt vorzubereiten, setzen wir uns mit einem Tee auf Plastikstühle im Koordinationszentrum. Ununterbrochen weht starker Wind über den Platz und bringt die Zeltstangen zum Wackeln. Einige Menschen, die draußen vorbeilaufen, tragen Masken wie wir. Nicht wegen Corona, sondern um sich vor dem asbestverseuchten Staub zu schützen, der von den Abrissarbeiten in den angrenzenden Straßen herübergeweht wird.
Der Mann am Tisch heißt Yasin Kaplan und studiert Sonderpädagogik in Izmir. Ursprünglich stammt er aus Serinyol, einer benachbarten Stadt in Hatay. Kurz nach dem Erdbeben kam er nach Samandağ, um als Freiwilliger die Solidaritätsarbeit seiner Partei zu unterstützen. »In den allerersten Tagen waren Polizisten aus Istanbul hier, die völlig überfordert waren. Auch sie standen unter Schock, aber suchten immer wieder den Kontakt zu uns«, berichtet Kaplan. »Nach einigen Tagen hatten sie viel Geld zusammengetragen, das sie zu uns brachten. Sie sagten, sie würden darauf vertrauen, dass wir das egalitär verteilen und am besten wüssten, was gebraucht wird.« Einer der Polizisten habe sogar gesagt, das Erdbeben habe nicht nur die Gebäude zum Einsturz gebracht, sondern auch Vorurteile der Sicherheitskräfte gegenüber den Linken. Mittlerweile wurden diese Polizisten aus der Region abgezogen, an ihrer Stelle kamen Zivilpolizisten, die regelmäßig über den Platz laufen – auch um zu kontrollieren, was sozialistische Parteien wie die TÖP dort tun.
Dass die landesweiten Freiwilligenstrukturen der organisierten Linken in den ersten Tagen nach den Erdbeben lebensrettend und unersetzlich waren, ist dem Staat ein Dorn im Auge. Die Regierung, die zunächst bei der Rettung der Verschütteten versagte und bis heute keine ausreichende Infrastruktur aufgebaut hat, fürchtet die deutliche Benennung ihrer Schwäche. Doch genau das verbindet die TÖP mit ihrer konkreten Solidaritätsarbeit: Ihr Zelt ist keine bloße Verteilstelle für die Spenden, sondern bietet auch ein Forum für politische Debatten, Workshops und Organisierung. Sie sagt, beim Wiederaufbau von Samandağ solle die Bevölkerung bestimmen, nicht die Zentralregierung in Ankara.
Während Kaplan uns die Arbeitsstruktur der Gruppe erklärt, kommen immer wieder Menschen, hauptsächlich Frauen, zum Zelt und fragen nach unterschiedlichen Dingen. Besonders dringend gebraucht werden saubere Unterwäsche, Socken, Shampoos und Cremes für Babys sowie Feuchttücher. Was Kaplan und seine Genoss*innen im hinteren Teil des Zeltes in Kisten gelagert haben, geben sie unverzüglich heraus. Doch immer wieder müssen sie Menschen vertrösten, denn es mangelt noch an vielem. Die Spenden erreichen Samandağ in unregelmäßigen Abständen und unvorhersehbaren Mengen. Wo immer es möglich ist, tauschen sich die Aktivist*innen in Samandağ mit anderen Solidaritätszentren in der Region, in den Orten Harbiye und Serinyol, über ihre aktuellen Ressourcen aus. Randa hat aus dem Zentrum in Serinyol einige Kinderschuhe mitgebracht. Anderes kommt auf lange Bestelllisten und ist mit etwas Glück und Vorausplanung auf einem der nächsten Transporte aus Istanbul zu finden.
Direkt neben dem Zelteingang steht eine Kiste mit Damenbinden griffbereit. Dass vor allem auf die Bedürfnisse von Frauen geachtet wird, ist der feministischen Organisation Mor Dayanışma (Lila Solidarität) zu verdanken. Ihr Zelt steht gleich nebenan und dient seit den ersten Tagen als Anlaufstelle und sicherer Ort für die Frauen in Samandağ. Eine der Initiator*innen ist die Lehrerin und Mor-Dayanışma-Aktivistin İrem Kayıkçı. Noch am 6. Februar belud sie gemeinsam mit ihren Genossinnen in Istanbul einen Lkw mit Dingen für die Frauen im Erdbebengebiet und machte sich auf den Weg in ihre alte Heimat. Wochenlang war sie vor Ort, um zu helfen. In einem ihrer ersten Berichte zur Lage in Samandağ schrieb sie später, dass das Sicherheitsgefühl der Frauen nicht durch Versprechen des Staates für Unterstützung entstanden sei, sondern durch unmittelbare, zivilgesellschaftliche Unterstützung: »Es entstand durch ein Frauenzelt, auch wenn dessen Wände nicht dicker als Papier waren. Die Kraft, die Nachbarschaft, den Ort und die Grünflächen für sich zu beanspruchen, kam von den Frauen, die sagen: ›Gebt uns Container und Zelte, wir bleiben hier.‹«
Mor Dayanışma stützt sich auf ein internationales Netzwerk an organisierten Feminist*innen, die sowohl in der Türkei als auch im europäischen Exil Spenden sammeln und bei Veranstaltungen auf die besonderen Herausforderungen für Frauen im Erdbebengebiet hinweisen.
Wie wichtig es sei, den Schutz von Frauen im Blick zu behalten, betont auch Ketrin Köprü von der lokalen Plattform Nehna (arabisch »Wir), eine unabhängige Organisation, die versucht, auf die vielfältige kulturelle, religiöse und politische Geschichte der Region aufmerksam zu machen, in einem Interview mit der feministischen Initiative Çatlak Zemin: »Auch fast zwei Monate nach der Katastrophe mangelt es in der Region immer noch an Hygieneartikeln und Unterwäsche. Ich habe zum Beispiel noch keinen einzigen BH gesehen, keine Pillen zur Empfängnisverhütung. Aber das ist wichtig, denn gerade unter diesen Bedingungen werden die Frauen zu sexuellen Handlungen gezwungen.« Feministische Organisationen berichten, dass es vor allem für alleinstehende Frauen und auch für LGBTQ schwer sei, überhaupt eigene Zelte zu erhalten. Damit erhöht sich das Risiko von Übergriffen und Gewalt nochmals.
Insgesamt stellt die radikale Zerstörung von Freiräumen außerhalb des familiären Umfelds für viele Frauen eine große Gefahr dar. Beispielhaft ist der Femizid an Simge Güzel, die Anfang April von ihrem Vater in Serinyol ermordet wurde. Auf einer Kundgebung nach ihrer Beerdigung erklärten die Mor-Dayanışma-Aktivist*innen den Staat und das patriarchale System für verantwortlich. »Wir geben unser Wort, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden! Wir werden das Leben zusammen neu aufbauen!«, riefen sie auf dem Platz vor ihrem Zelt. Sie machten darauf aufmerksam, dass Frauen und Mädchen mit männlichen Familienmitgliedern in Zelten zusammenleben müssten, obwohl sie in der Vergangenheit von diesen Gewalt erfahren hätten. Freiräume und perspektivisch auch Orte der kollektiven Arbeit, an denen die Frauen ihre ökonomische Unabhängigkeit (wieder-)erlangen, sind für Organisationen wie Mor Dayanışma deshalb zentral.
Das gilt für Samandağ ganz besonders – denn es ist eine Stadt der Frauen. Ihre gesellschaftliche Rolle ist in den vergangenen 40 Jahren notwendigerweise gewachsen, nicht zuletzt, weil seit den 80er Jahren viele Männer von hier als »Gastarbeiter« nach Saudi-Arabien, in andere arabische Länder, aber auch nach Europa gingen, um dort den Unterhalt für ihre Familien zu verdienen. In ihrer Abwesenheit, die Monate oder auch Jahre dauern kann, übernehmen die Frauen und Mädchen den Großteil der alltäglichen Aufgaben. Es ist keine Seltenheit, dass etwa Teenagerinnen Motorrad fahren, mit ihren Müttern auf dem Rücksitz, und dass die Frauen gewohnt sind, untereinander kollektive Strukturen aufzubauen.
Die Strukturen der Frauen von Samandağ und Hatay im Allgemeinen beruhen auf jahrelanger politischer Arbeit feministischer Organisationen und der traditionell linken Orientierung vieler Menschen in der Region. Ein wichtiger Teil ist auch die Einbeziehung der arabisch-alevitischen Kultur, zu der ein Großteil der Bevölkerung in der Region gehört. Ihre Muttersprache ist der lokale arabische Dialekt, der vor allem von den älteren Menschen gesprochen wird. Dass Aktivist*innen wie Kaplan und Randa ihn beherrschen und ins Türkische übersetzen können, ist ein großer Vorteil bei der Verständigung und Organisierung in Hatay.
Im Koordinierungszelt in Samandağ herrscht Aufbruchstimmung. Eine kleine Delegation macht sich auf den Weg in die nahe gelegenen Viertel, um zur morgigen Gedenkdemonstration einzuladen. Es wird der 40. Tag nach dem Erdbeben sein. Zu diesem Zeitpunkt wird in der Region nochmals auf besondere Weise der Verstorbenen gedacht. Da der Großteil der bisher benannten 50 000 Erdbebentoten aus Hatay kommt, ist dieser Tag für viele Menschen ein gemeinsamer Trauertag. Fotos und Berichte in den folgenden Tagen zeigen hunderte Menschen – vor allem Frauen –, die den Aufrufen zum gemeinsamen Erinnern folgen. Mit Weihrauch- und Myrtezweigen in den Händen formiert sich ein zugleich trauriger und wütender Marsch durch die Straßen zwischen den eingestürzten Gebäuden. Die Demonstrierenden fordern nicht nur umfassende staatliche Unterstützung, sondern rufen auch »Unutmak yok, helalleşmek yok« (türk. für »Kein Vergessen, kein Vergeben«) und »Ma rıhna nehna hon!« (arab. für »Wir gehen nicht, wir sind hier«). Die Sorge vor einer Vertreibung der arabisch-alevitischen und christlichen Bevölkerung aus Hatay durch die staatliche Erdbebenpolitik ist hier ein zentrales Thema. Die Minderheiten haben eine lange Geschichte staatlicher Unterdrückung; die Verteidigung ihrer Heimatorte als letzte vermeintlich sichere Gebiete hat für sie oberste Priorität. Auch das erklärt, warum Menschen trotz aller Widrigkeiten in Zelten zwischen einsturzgefährdeten Ruinen der Stadt bleiben.
Der Marsch am 40. Tag ist der Auftakt für größere Proteste, die bis heute anhalten. Sie richten sich zum einen gegen die Art und Weise, die Trümmer abzuräumen, die wenig Rücksicht auf die unter den Trümmern verbliebenen Menschen und etwaige letzte Erinnerungsstücke nimmt. Zum anderen geht es um eine dringende Forderung: den Stopp der Schuttabladung in Samandağ.
Während in den ersten Tagen nach den Beben kaum Geräte zur Bergung in die Stadt gebracht wurden und dadurch die Todeszahlen in die Höhe schnellten, sind nun überall Bagger und Lastwagen zu sehen, die den Schutt der eingestürzten Gebäude abtragen. Beauftragt werden private Firmen, die möglichst kurze Wege zwischen den Ruinen und dem Abladeplatz bevorzugen und mit gefährlich hoher Geschwindigkeit über die Landstraßen von Hatay rasen. Einer der Abladeplätze liegt im Çiğdede-Viertel, direkt neben einem Zeltlager. Der Ort ist außerdem ein Landeplatz für geschützte Zugvögel und die Brutstätte von Schildkröten. Da die Trümmer der eingestürzten Häuser Asbest und andere giftige Stoffe enthalten, die nicht entsprechend entsorgt werden, befürchtet die Bevölkerung schwere gesundheitliche Folgeschäden. Während sich der Bürgermeister von Samandağ, Refik Eryılmaz, und der Gouverneur Hüseyin Engin Sarıibrahim gegenseitig die Verantwortung für die Abladeplätze zuschieben, blockiert die Bevölkerung kurzerhand die Zufahrtsstraßen. »Stoppt den Schutt, verteidigt das Leben« und »Die Regierung wird unter den Trümmern begraben« sind ihre zentralen Slogans. Anfang April kommt es bei den Straßenblockaden zu härteren Auseinandersetzungen mit den Soldaten, 15 Erdbebenüberlebende werden vorübergehend festgenommen. Bislang führt die Gewalt seitens des Staates allerdings eher dazu, dass sich mehr Menschen aus den Nachbarschaften den Protesten anschließen.
Der Kampf um die politische Macht in Hatay hat durch die Erdbeben insgesamt eine neue Dimension angenommen. Während das staatliche Versagen zunächst ein Vakuum hinterließ, das schnell von linken Organisationen, lokalen Selbstverwaltungsstrukturen und mit der Unterstützung der von der CHP regierten Stadtverwaltungen gefüllt wurde, greift die AKP-Regierung nun mit aller Härte gegen diese Organisationen durch. Das hängt auch mit den bevorstehenden Wahlen zusammen, bei denen die Opposition den Umfragen zufolge reale Chancen auf einen Wahlsieg hat. Doch der Widerstand gegen islamistische Regime und Assimilationspolitik in Hatay dauert schon länger an als die Herrschaft der AKP. Auch deshalb versucht diese nun, Antakya im Kern zu zerstören, unter dem Deckmantel eines Wiederaufbaus – nach ihrer Vorstellung.
Am 5. April erließ Präsident Erdoğan ein Dekret, wonach der historische Stadtkern von Antakya zur »risikoreichen Zone« erklärt wurde. Anwalt Can Terbiyeli, der ebenfalls in der Organisation Nehna aktiv ist, erklärte dazu in einem Fernsehinterview: »Auffällig ist, dass dieser Beschluss nicht das gesamte Erdbebengebiet, sondern nur den historischen Stadtkern von Antakya umfasst. Also das, was Antakya grundlegend ausmacht.« Dazu gehören neben den alten Steinhäusern auch viele religiöse Stätten wie Kirchen, Moscheen, Schreine und der historische Markt. Dort lebte und arbeitete bis zum 6. Februar die einheimische Bevölkerung, aber auch viele Syrer*innen fanden dort Zuflucht. Seit über zehn Jahren planen Investoren und regierungsnahe Bauherren eine umfassende Umstrukturierung dieses Gebiets, die Antakya nur noch als leere Kulisse für Shopping und Tourismus betrachten.
Die Zerstörung durch das Erdbeben könnte nun der entscheidende Punkt für einen Neubau der Stadt nach diesem Modell und die endgültige Vertreibung der Einheimischen sein. Terbiyeli zieht einen Vergleich mit dem Wiederaufbau der Altstadt von Diyarbakir, Sur, nachdem diese in den Jahren 2015/2016 in den Kämpfen zwischen der türkischen Armee und den PKK-nahen Selbstverteidigungsstrukturen zerstört wurde. »Dieser Ort ist heute nichts anderes als ein Freiluftmuseum.« Auf die Frage, was man gegen eine ähnlich massive Umstrukturierung von Antakya unternehmen könne, antwortet Terbiyeli: »Natürlich gibt es rechtliche Wege, die man einschlagen kann. Aber vor allem braucht es ein gesellschaftliches Bewusstsein über dieses Problem, es braucht Aufklärung der Gesellschaft.« Entscheidend sei der öffentliche Widerstand, um die Umsetzung des Dekrets aufzuhalten, so Terbiyeli. »Von vor Ort hören wir zwar, dass versprochen wird, niemand werde entrechtet, doch hier in diesem Land zählen solche Versprechen nicht.« Erste Schritte dagegen unternehmen die Aktivistinnen in ihrem Koordinationszentrum in Samandağ. Regelmäßig laden sie Anwält*innen zu öffentlichen Veranstaltungen ein, bei denen die Menschen in rechtlichen Fragen und bei anstehenden Entscheidungen unterstützt werden.
Im Yeni Park ist der Abend angebrochen. Die Freiwilligen versammeln sich im Zelt der TÖP für eine Auswertung des Tages, während wir Samandağ verlassen. Beim letzten Blick auf die wenigen Lichter im Tal erinnern wir uns, wie İrem Kayıkçı ihren Blick auf Antakya beschrieb, als sie mit der ersten Spendenlieferung ankam: »Die Stadt war in völlige Dunkelheit gehüllt, in Erwartung eines Geräusches, in Erwartung von Hilfe.« Seither kamen zwar viele weitere Lieferungen an, doch deren abnehmende Mengen bieten bereits jetzt Anlass zur Sorge. Die landesweiten Solidaritätsstrukturen, deren Anfangspunkt in Istanbul und Endpunkt in Hatay wir gesehen haben, stützen sich auf die vielen unermüdlichen Freiwilligen, die jedoch auf Dauer keine staatliche Organisierung ersetzen können. Die politische Entwicklung der Region ist umkämpft, weshalb die Menschen im Erdbebengebiet immer wieder betonen: »Vergesst uns nicht, wir wollen unser Leben hier neu aufbauen.«
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