Vitali von Polizisten erstickt?

Kundgebung erinnert an das Opfer eines Polizeieinsatzes in Niederlehme

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 5 Min.
Hamze Bytyci (Mitte) beim Gedenken an Vitali Novacov und andere Polizeiopfer
Hamze Bytyci (Mitte) beim Gedenken an Vitali Novacov und andere Polizeiopfer

Am 12. April wird Vitali Novacov im Berliner Klinikum Neukölln für tot erklärt. Der Fall wirft Fragen auf. Am Vortag war die brandenburgische Polizei gegen 21.15 Uhr von Anwohnern zur Karl-Marx-Straße von Niederlehme gerufen worden. »Dort hielt sich ein Mann unberechtigt auf einem Grundstück auf, trat gegen Gegenstände und schlug auf Pkw ein«, heißt es in einer Polizeimeldung vom 12. April. »Er verhielt sich aggressiv, biss und war psychisch auffällig. Durch die Polizisten kam Pfefferspray zum Einsatz.« Und weiter: »Der 45-Jährige konnte mit Unterstützung von Anwohnern fixiert und gefesselt werden. Unmittelbar danach wurde er ohnmächtig, die Handfesseln wurden gelöst, erste Hilfe geleistet und ein Notarzt hinzugerufen.«

Am frühen Sonntagabend wird bei einer Kundgebung am Berliner Oranienplatz an Vitali Novacov erinnert. Dort befindet sich seit September 2020 eine Stele für die Opfer von Rassismus und Polizeigewalt. Es werde wohl leider nicht die letzte Trauerkundgebung sein, bedauert Hamze Bytyci, Vorstandsvorsitzender der transkulturellen Selbstorganisation Roma Trial. »Wir wissen nicht, ob unser verstorbener Bruder Vitali ein Roma war.« Aber es könnte sein. Nur so viel steht fest: Das Todesopfer wurde in der Sowjetrepublik Moldau geboren und war bulgarischer Staatsbürger. Dies und einige andere Details wissen die Organisatoren der Kundgebung aus Zeitungen. Es stand etwa im »Tagesspiegel« und in der »Tageszeitung« (Taz).

Vitali Novacov habe einen 15-jährigen Sohn gehabt. Bruder Ivan habe Vitali als »ruhigen, unauffälligen Mann beschrieben, der selten Alkohol trank, weil er ihn nicht vertrug«, berichtet Hamze Bytyci. Im Blut von Novacov sei kein Alkohol gefunden worden, und er habe auch nicht unter Drogen gestanden. Vitali habe viel im Ausland gearbeitet, in Deutschland beispielsweise und auch in Russland: als Mechaniker, als Taxifahrer und auf dem Bau. »Als rassifizierte Menschen haben wir leider zu viele Erfahrungen mit den Lügen und der zurechtgelegten Wahrheit der Staatsanwaltschaften gemacht«, beklagt Bytyci. Er ruft: »No justice« (keine Gerechtigkeit). Seine gut 100 Zuhörer antworten im Chor: »No peace« (kein Frieden).

Einem Taz-Bericht zufolge gibt es etliche Ungereimtheiten. Der Zeitung liegen nach eigener Darstellung interne Unterlagen vor: Teile der Patientenakte, ein Durchsuchungsprotokoll und der Einsatzbericht des Notarztes, der zur Karl-Marx-Straße gerufen wurde. Demnach sollen Polizisten, anders als behauptet, versucht haben, den Ohnmächtigen mit noch nicht gelösten Handschellen zu reanimieren. Bei der Kundgebung wird gesagt, dies sei ein lebensgefährlicher Fehler, weil damit das Erstickungsrisiko steigt. Der Befund soll auch gelautet haben: »Atemstillstand in polizeilicher Fixierung« und Sauerstoffmangel im Gehirn »durch gewaltsames Zu-Boden-Drücken von Gesicht und Thorax in Bauchlage«. Im Gesicht und im Mund von Vitali Novacov hätten Ärzte Erde entdeckt.

Das Berliner Bündnis gegen Antiziganismus und für Roma-Empowerment fordert: »Sein Tod muss aufgeklärt werden. Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.« Die beteiligten Polizisten seien sofort vom Dienst zu suspendieren.

Nicht nur an Vitali wird auf dem Oranienplatz erinnert, auch an Menschen, die in den vergangenen Jahren starben, nachdem Beamte Pfefferspray gegen sie einsetzten: Ein 19-jähriger Jeside in Delmenhorst (»Plötzliches Kollabieren, wir kennen das schon«), ein junger Grieche in Wuppertal (»Auf der Wache soll er dann – wir kennen das – plötzlich kollabiert sein«) und ein 47-Jähriger in Mannheim. Gedacht wird auch an einen 64-jährigen Kongolesen, der in Berlin von der Polizei in die Psychiatrie gebracht werden sollte und sein Leben verlor. In einer Chronik von Polizeitoten seit 1990 seien mehr als 220 Fälle erfasst, heißt es, und da sei Vitali Novacov noch nicht dabei.

»Es reicht: Das Sterben und Töten muss ein sofortiges Ende haben«, verlangt André Moussa vom Knastschaden-Kollektiv, der selbst jahrelang im Gefängnis saß und an den gesundheitlichen Folgen leidet. Vitali habe herumgebrüllt, weil er psychisch krank war. »Er war keine Gefahr«, ist Moussa überzeugt. »Er war keine Bedrohung. Das war für mich Mord.« Uwe Pankow von der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener verlangt ein »Recht auf Krankheit«. Dann könnte niemand mehr gegen seinen Willen mit medizinischen Diagnosen und Vorwänden weggesperrt werden.

Die bisherigen Informationen legen den Verdacht nahe, dass die von der Polizei ausgeübte Gewalt »mindestens mittelbar« zum Tod von Novacov geführt habe, findet der brandenburgische Verein Opferperspektive. Diesem Verdacht müsse nachgegangen werden. Es klaffe eine eklatante Lücke zwischen den Berichten der Polizei und der Ärzte. »Wir fordern daher eine zeitnahe und lückenlose Aufklärung«, äußert Opferberater Martin Vesely.

Auch die Landtagsabgeordnete Marlen Block (Linke) begehrt Aufklärung und hat viele Fragen. Ihre Fraktion setzte den Fall auf die Tagesordnung des Innenausschusses an diesem Mittwoch. Dort soll, ebenfalls auf Antrag der Linksfraktion, noch ein zweiter Fall aus Senftenberg behandelt werden: Am 7. März wurden Beamte wegen Ruhestörung gerufen. Ein psychisch kranker Mann zertrümmerte mit einer Axt seine Wohnungseinrichtung und wurde von der Polizei erschossen. Die Linke verlangt, den richtigen Umgang mit psychisch kranken Menschen in der Aus- und Weiterbildung von Polizisten zu verankern.

Das Brandenburger Polizeipräsidium verweist an die Berliner Polizei, die zum Tod von Vitali im Klinikum Neukölln ermittelt, und an die Staatsanwaltschaft Cottbus, die für den Polizeieinsatz in Niederlehme zuständig ist. Ansonsten hält sich das Präsidium bedeckt.

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