- Wirtschaft und Umwelt
- Ausbeutung in der Ernte
Schlecht versichert auf dem Feld
Saisonbeschäftigte sind oft nicht voll krankenversichert, obwohl die Ampel das versprochen hatte
Etwa 30 Prozent der 940 000 Beschäftigten in der Landwirtschaft sind sogenannte Saisonarbeitskräfte, viele davon kommen aus Mittel- und Osteuropa. Laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft stammen die allermeisten aus Polen und Rumänien. Seit 2021 gibt es zudem ein Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und Georgien, seit 2022 auch eines mit der Republik Moldau, wobei im Moment nur wenige Hundert Menschen aus diesen Ländern kommen. So oder so: Erntearbeiter*innen aus dem Ausland sind wesentlich daran beteiligt, Feldfrüchte in Deutschland zu ernten, zu sortieren und zu verpacken.
Gut bezahlt und untergebracht werden sie nicht. Ein weiteres Problem ist mangelnder Krankenversicherungsschutz. Hier hatte die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag im Herbst 2021 allerdings ein ausdrückliches Versprechen gegeben: »Für Saisonbeschäftigte sorgen wir für den vollen Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Tag.« Inzwischen hat die Ernte 2023 längst begonnen und damit die zweite Saison unter der Ampel-Regierung, in der dieses Versprechen nicht erfüllt wurde. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft teilte auf nd-Nachfrage mit: »Die Beratungen innerhalb der Bundesregierung zur Umsetzung des Vorhabens aus dem Koalitionsvertrag laufen derzeit noch.« Involviert sind auch das Bundesgesundheits- sowie das Arbeitsministerium, beide SPD-geführt. Sprecher beider Häuser hatten schon im Februar 2022 behauptet, man befinde sich »derzeit in Abstimmung« über die Umsetzung des vollen Krankenversicherungsschutzes für Saisonarbeiter*innen. In mehr als einem Jahr hat sich also nichts getan.
Das Grundproblem: Viele Saisonarbeiter*innen sind als Minijobber im Rahmen einer kurzfristigen Beschäftigung angestellt. Damit machen Arbeitgeber in der Landwirtschaft massenhaft Gebrauch von einem Modell, das nur als Ausnahme für Schüler*innen oder Studierende gedacht war. Die kurzfristige Beschäftigung ist auf maximal 70 Tage begrenzt. Wieder begrenzt, genauer gesagt, denn während der Pandemie wurde dieser Zeitrahmen unter Federführung der damaligen Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) sogar auf 115 Tage im Jahr 2020 beziehungsweise 102 Tage für 2021 angehoben. Arbeitgeber zahlen für kurzfristig Beschäftigte keine Sozialversicherungsbeiträge; die Arbeiter*innen sind ausschließlich unfallversichert, darüber hinaus weder kranken- noch anderweitig sozialversichert. In der Vergangenheit führte dies immer wieder dazu, dass erkrankte Erntearbeiter*innen für Behandlungskosten selbst aufkommen sollten. Die gewerkschaftliche »Initiative Faire Landarbeit« hatte beispielsweise 2020 den Fall eines Arbeiters ohne Versicherung dokumentiert, der wegen des Verdachts auf Herzinfarkt im Krankenhaus behandelt wurde und dem die Kosten dafür vom Lohn abgezogen werden sollten.
Um zumindest solche Fälle von überhaupt nicht versicherten Arbeiter*innen zu vermeiden, war noch von der Großen Koalition im Frühjahr 2021 die Einführung einer Meldepflicht über den Krankenversicherungsstatus beschlossen worden. Damals hatte das SPD-geführte Arbeitsministerium dies im Tausch gegen die Zustimmung zur erneuten Ausweitung des Zeitraums der kurzfristigen Beschäftigung in der Erntesaison 2021 durchgesetzt. In Kraft getreten ist die Meldepflicht allerdings erst am 1. Januar 2022.
Meldepflicht bedeutet: Bei Anmeldung eines geringfügig beschäftigten Saisonarbeiters müssen Arbeitgeber gegenüber der Minijobzentrale angeben, ob dieser auch krankenversichert ist. Das Verfahren ist automatisiert, es wird also nicht überprüft, ob die Angaben korrekt sind; das Programm erkennt nur, ob der Status »versichert« angegeben wurde oder nicht. Für die Überprüfung sind Zoll und Rentenversicherung zuständig. Eine Sprecherin des Bundesarbeitsministeriums sagt dazu gegenüber »nd.Der Tag«, dass »der Bundesregierung bisher keine Daten über mögliche Verstöße gegen die bestehende Meldepflicht vorliegen«.
Ein Grund dafür dürfte – neben mangelnder Kontrolle – sein, dass die Meldepflicht leicht zu erfüllen ist, auch ohne vollwertigen Krankenversicherungsschutz. Es reicht nämlich, wenn der Saisonbeschäftigte entweder im Herkunftsland oder aber über eine private Gruppenversicherung krankenversichert ist. Solche »Erntehelferversicherungen« gibt es schon lange. Sie kosten wenig, der Anbieter Klemmer etwa wirbt mit 0,43 Cent pro Tag pro Beschäftigtem für Betriebe, die bis zu 30 Saisonarbeiter*innen angestellt haben.
Der Leistungsumfang ist jedoch überhaupt nicht zu vergleichen mit dem der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Einsehbare Policen mehrerer Anbieter belegen das; in diesen sind etliche Ausnahmen vom Versicherungsschutz festgeschrieben. Ausgeschlossen sind zum Beispiel die Behandlung chronischer Krankheiten und deren Folgen, die Behandlung von »vor Versicherungsbeginn entstandenen Krankheiten, Beschwerden, Unfällen, Schwangerschaften etc.«, die Behandlung von Krankheiten oder Unfällen, die im Zusammenhang mit Alkoholgenuss stehen, die Behandlung der Folgen von HIV/Aids sowie alle Arten von Vorsorgeuntersuchungen.
Auf ein weiteres Problem weist die »Initiative Faire Landarbeit« in ihrem Jahresbericht 2022 hin: Bei privaten Gruppenkrankenversicherungen ist der Versicherungsnehmer der Arbeitgeber, er erhält nach Abschluss einer solchen Versicherung die entsprechenden Nachweise, nicht der Arbeiter. »Wir waren 2022 mit vielen Fällen konfrontiert, in denen Betriebsleitungen den Beschäftigten keine Krankenversicherungsnachweise ausgehändigt haben«, heißt es in dem Bericht. Betriebsleitungen größerer Betrieben hätten »in Gesprächen offen davon berichtet, dass sie, wenn ein*e Beschäftigte*r Krankheitssymptome meldet, entscheiden, ob die Person trotzdem arbeitet oder nicht und in welchem Fall ein Arztbesuch stattfindet.«
Für die »Initiative Faire Landarbeit« ist die Umsetzung des Koalitionsversprechens daher eine der zentrale Forderungen für die Branche. Allerdings sieht sie auch dies nur als ersten Schritt zur Überwindung des Modells der kurzfristigen Beschäftigung. Denn eigentlich, so die Initiative, sollten Erntearbeiter*innen »grundsätzlich sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden«.
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