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Sadomaso: Erziehung zur Unfreiheit

In »Die grausame Lust« untersucht Ulrike Heider die Versprechen des Sadomasochismus

  • Elfriede Müller
  • Lesedauer: 4 Min.

Ulrike Heider betrachtet das sexuelle Begehren im Spiegel der gesellschaftlichen Maskerade wie einst Marcel Proust in »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Während Proust literarisch seziert, geht Ulrike Heider ideologiekritisch vor. In ihrem Essay »Die grausame Lust« betrachtet Heider die Jahrzehnte von den 60er Jahren bis heute. Der aktuelle sadomasochistische Trend beginnt ihrer Ansicht nach in den 80er Jahren – als Begleiterscheinung des neuen Konservatismus.

Zunächst seziert Heider die Schriften des Marquis de Sade, die seiner Schüler*innen und einiger Kritiker*innen, das geht von den Surrealisten, den Existenzialisten über die Kritische Theorie, den Strukturalismus, bis zu Peter Weiss und Pier Paolo Pasolini. Dieser glänzend und unterhaltsam geschriebene Band ist eine überzeugende Dekonstruktion linker Illusionen über ein vermeintlich subversives Begehren. Denn es sind die Quellen selbst, die – gründlich gelesen – die konformistische Revolte in Theorie und Praxis des Sadomasochismus erkennen lassen. Die diversen sexuellen Neigungen und Ansätze, Heterosexualität wie Homosexualität und Queerness, sind dafür gleichermaßen empfänglich. Für Heider integrieren der Mainstream, der globale Markt (alle Subkulturen eingeschlossen) sadomasochistisches Begehren.

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Heiders Ausgangsfrage lautet: »Gibt es etwas Emanzipatorisches an dieser Form von Sexualität und dem dazugehörigen Denken?« Nach intensiver Beschäftigung und einer umfassenden Darstellung kommt sie zu dem Schluss, dass, egal wie begründet, letzten Endes nichts Emanzipatorisches daran zu entdecken ist. Doch warum hält sich seit dem 18. Jahrhundert die Vorstellung einer von Gewalt und Sklavenfantasien geprägten Sexualität auch in der Linken?

Zunächst, weil auch in der Linken das Sein das Bewusstsein bestimmt und die Linke sich nicht außerhalb der Gesellschaft bewegt. So war der Sadomasochismus im 20. Jahrhundert zunächst ein subkulturelles Randgruppenphänomen, das heute auf unterstem literarischen Niveau (»Fifty Shades of Grey«) zum heterosexuellen Mainstream durchgedrungen ist. Doch Heider verurteilt nicht, sie erklärt, warum ein sozial abgestiegener Adeliger wie de Sade als Progressiver missverstanden werden kann. Der von Frauenhass geprägte Marquis verteidigt seine verlorenen Adelsprivilegien und den Ständestaat. Heider sieht in de Sade den Vorläufer Nietzsches und seines Herrenmenschentums. Sexueller Genuss kann de Sade zufolge nie gemeinsam erfolgen, immer nur auf Kosten der anderen. Es gehe de Sade und seinesgleichen nicht um die Befreiung an sich, sondern nur um die einer winzigen Elite von der christlichen Moral. So ist sein Werk auch geprägt von Folter, Vergewaltigung, Lustmord und Blasphemie, kurz: von Grausamkeit.

Das Menschenbild des Sadomasochismus entlarvt Heider als das einer grausamen Menschennatur und einer angeborenen Bösartigkeit. So bleibt vom Menschen wie bei Nietzsche nur seine Lust auf Vernichtung und Krieg. Die Affinität zu Militarismus und Faschismus liegt nahe. Ulrike Heider definiert als zentrales Merkmal des Sadomasochismus die Idealisierung des Herr-Knecht-Verhältnisses, das den menschlichen Körper auf eine Ware reduziert.

Das deutsche Comeback des Marquis macht die Autorin an den Büchern von Michel Foucault, einem überzeugten Nietzscheaner, fest. Dessen von Nietzsche abgeleitete Machtontologie und seine Kritik am Humanismus und der Aufklärung sehen die »Macht« als schon immer Dagewesenes, die alle Felder der Gesellschaft gleichermaßen durchdringt. Heider würdigt gleichermaßen Foucaults Beiträge zur Kritik des Strafvollzugs und der Antipsychiatriebewegung, jedoch nicht ohne in ihm einen rückwärtsgewandeten konformistischen Rebellen zu erkennen.

Aus Frankreich kam die Philosophie des Sadomasochismus, in den USA traten die praktischen Anhänger*innen zuerst öffentlich auf den Plan. In den 50er Jahren waren es traumatisierte Kriegsveteranen, die sich in männerbündischen Motorradclubs organisierten, die Dominanz und Unterwerfung zelebrierten. Bezeichnenderweise war der erste Ledermann, der öffentlich seine Stimme erhob, der einstige Offiziersanwärter des Air-Force-Geheimdienstes Larry Townsend. Auch da steht nicht der sexuelle Genuss im Mittelpunkt, sondern das Autoritätsverhältnis, das Lust verspricht.

Allen Strömungen des Sadomasochismus ist gemeinsam, dass es eigentlich wenig um Sexualität, sondern mehr um die menschliche Ungleichheit, um Sklavenhaltertum, Herr und Knecht, Sadisten und Masochisten, um die Freiheit der einen auf Kosten der Unfreiheit der Anderen geht.

Am Ende stellt Ulrike Heider klar, dass eine sexuelle Revolution als Teil einer sozialen Revolution nie stattgefunden hat. Egalitäre und solidarische Begegnungsformen sind nicht nur sexuell schwierig, sondern auch gesamtgesellschaftlich, weil sie gegen das Prinzip des Kapitalismus verstoßen. Da beide Revolutionen ausgeblieben sind, wurden ihre Themen und Wünsche in den kapitalistischen Alltag als entfremdete konformistische Lebensweisen integriert, die den Gesetzen des Marktes und seiner Funktionsfähigkeit unterliegen. Was wäre da geeigneter als die instrumentelle Vernunft, die Identifikation mit dem Aggressor? Der Sadomasochismus ist, so Heiders Fazit, die zu Konkurrenz, Macht, Ohnmacht, Leistungszwang und Gewalt passende Form der Lust.

Ulrike Heider: Die grausame Lust. Sadomasochismus als Ideologie. Schmetterling-Verlag, 246 S., br., 19,80 €.

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