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Ein paar Umdrehungen schneller
Diese echte Kriminalgeschichte liest sich wie Butter: »Der Pate von Neuruppin« von Frank Willmann
Klingt wie eine bessere Netflixserie: Vom Bratwurstverkäufer zum Verbrecherchef, der eine größere Kleinstadt beherrscht. Das ist auch ein »Aufstieg Ost«, von dem früher so viel geredet wurde, aber ganz real erlebt und nicht ideologisch herbei halluziniert. Diese Karriere findet nicht irgendwo hinter den sieben Bergen im dunkel post-totalitär gewendeten Osteuropa statt, sondern in Neuruppin, Brandenburg.
In einer Kreisstadt, in der nichts los ist, außer den konstanten Preissteigerungen eines luxeriösen Wellnessbades. Dort kann man dem klassizistischen Städtebau besichtigen und der notorischen Brandenburger Kultfigur Theodor Fontane gedenken. Die wurde hier nämlich 1819 geboren. Außerdem im Angebot: Olaf Kamrath, der »Pate von Neuruppin«. Er wurde hier 2004 verhaftet. Es war der größte Kriminalfall Ostdeutschlands seit dem Ende der DDR.
Über Kamrath und seine Freunde hat Frank Willmann jetzt ein sehr packendes Buch gemacht, das natürlich »Der Pate von Neuruppin« heißt. Man kann seine Gruppe auch »XY-Bande« nennen, nach den Wunsch-Nummernschildern ihrer Autos. Von der Stadt bekamen sie auch polizeiliche Hilfe und eine Vorzugsbehandlung bei Immobiliengeschäften. Das meiste Geld verdienten sie mit Drogenhandel, sie versorgten die Region und besonders auch Berlin mit Kokain. Vorgeworfen wurde ihnen auch illegales Glücksspiel, Erpressung, Bordellbetrieb und »ein ungeklärter Mord stand auch noch im Raum«, wie es Kamrath im Buch formuliert. »Bild« schrieb damals vom »Brandenburger Mafia-Netzwerk«.
Gemeint war hier der engste Kreis, das waren Kamrath, genannt Ollie, Kalle, Joschi und Franky. Sie kannten sich aus der Jugend und waren schon fast in der Seriosität angekommen, als sie alle bei einer Groß-Razzia festgenommen wurden. Da hatten sie den Drogenhandel schon hinter sich gelassen und investierten in Immobilien. Olaf Kamrath war Präsident des lokalen Fußballclubs Union und CDU-Politiker. Wollte er Bürgermeister werden? Oder in die höhere Landespolitik? War das das bisschen Zuviel, was ihn letztlich zu Fall brachte? Reine Spekulation.
Weniger spekulativ ist es, sich ihn als intelligenten und umsichtigen Typen vorzustellen. Einer, der die Menschen für sich einnimmt, mit viel Entschlusskraft. So wird er im Buch vielfach beschrieben. In den neun Jahren, die Olaf Kamrath dann im Gefängnis saß (wegen guter Führung vorzeitig entlassen), machte er ein Fernstudium als Immobilien-Fachwirt. Aufgewachsen ist er in der Kneipe seines Vaters, der wusste, wie man in der Mangelwirtschaft Sachen organisiert und wie man mit den Menschen umgeht, dass die einem dabei helfen. Sein Sohn wurde Blitzschutzmonteur, »ein genialer Posten«, wie er rückblickend meint. Nicht viel zu tun, früh Feierabend, selbstbestimmte Arbeit: »kein Mensch in der DDR wusste, was wir wirklich auf dem Schornstein anstellten, weil so hoch nie einer gekrabbelt ist«. Doch er überlegte schon während der Lehrzeit, wie er zu mehr Wohlstand kommen könnte, denn »Geld war auch im Sozialismus der DDR der Schlüssel zum Glück. Haste was, biste was, lautete die Parole«. Das Problem war nur, dass im Sozialismus alles so langsam vonstatten ging – es gab ja auch kein Kokain.
Nach der Wende probierte er dann mit den Freunden verschiedene Geschäftsmodelle aus. Sie starteten als »halbstarke Ossis« (Kamrath) in der »Anarchie« (Willmann) des zusammenbrechenden Staats, von dem sie nie viel gehalten hatten: Zu nervig, langweilig und repressiv. Lieber auf die eigene Kraft vertrauen, wie aus dem kapitalistischen Lehrbuch. Einen Tag vor der Währungsunion eröffneten Kamrath und sein Kumpel Joschi einen Imbisswagen auf dem Marktplatz und verkauften Bratwürste, Pommes und Überraschungseier, die sie bei der Metro in Westberlin eingekauft hatten. Das wurde ein erster Erfolg, die Leute rannten ihnen die Bude ein. Auch ihre weiteren Geschäfte ließen gut an: Die Automaten, die sie in Kneipen aufstellten, das Fitnessstudio und dann die Disco, die sie eröffneten. Und auch der Puff, der dann folgte.
Mit Kokain kamen sie in ihrer Disco in Kontakt. »Ein Erweckungserlebnis«, meint Kamrath. Bis dahin waren sie »noch brave, gesittete Typen, Marke Unternehmer des Jahres« gewesen, doch dann »drehte sich unsere Welt noch ein paar Umdrehungen schneller«. Am Anfang hatten sie die Dealer noch rausgeschmissen, dann wurden sie selber Dealer, das war effizienter. Am effizientesten aber war es, in den Großhandel einzusteigen. Und so schildern die Leute von der »XY-Bande« anschauliche Schoten und Szenen aus dem Drogenbusiness in Amsterdam und anderswo, wo man schon mal eine Pistole an den Kopf gehalten bekommt und deshalb sehr straight auftreten muss. »Das hätte ich mir als kleiner DDR-Junge nicht mal in meinen kühnsten Träumen ausmalen können«, erzählt Franky, der für die Kurierfahrten zuständig war, aber es erst im Berliner Knast 2010 mit der Droge versuchte. Doch das war nicht sein Ding: »Ich war süchtig nach Leben, nach Whisky, Partys und Weibern.«
Frank Willmann lässt Kamrath und dessen Freunde selbst berichten, auch Kamraths Mutter, seine Frau und weitere Personen aus dem Umfeld – Kriminalgeschichte als Oral History. Die ist sehr gut komponiert und liest sich wie Butter. Bislang wurde diese Erzähl- und Aufschreibtechnik hierzulande für Darstellungen der Popgeschichte verwandt (Punk, Techno, Krautrock). Von Willmann dramaturgisch und dokumentarisch geordnet, entwickeln die Protagonisten eine Soziologie der Schattenwirtschaft im »wilden, wilden Osten, als Geld alles bedeutete und so wirkte wie Kokain: Nichts schien unmöglich«. Wann können wir das bei Netflix ansehen?
Frank Willmann: Der Pate von Neuruppin. Vom Imbisswagen zum Drogenimperium. Tropen, 224 S., geb., 20 €.
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