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Gewerkschaften in den USA: Bildet Bündnisse!
Kämpfe für bessere Arbeitsbedingungen und fürs Gemeinwohl lassen sich zum Nutzen aller verbinden. Das zeigt das Beispiel USA
Von Kita bis Klinik, von Bahn bis Bürgeramt – der Zustand der staatlichen Daseinsvorsorge ist desolat, und es gibt politische Hürden, die grundlegenden Verbesserungen entgegenstehen. Regelungen wie das europäische Abkommen zur Haushaltsstabilität und die grundgesetzlich verankerte Schuldenbremse sichern die vorherrschende neoliberale Austeritätspolitik institutionell ab. Dass Arbeitskämpfe ein Mittel sind, neben Fortschritten für die Beschäftigten auch einen bedarfsgerechten Ausbau öffentlicher Dienstleistungen zu erreichen und daraus noch Kraft zu ziehen, zeigt ein Blick in die USA.
Eine Streikwelle von Lehrkräften in sechs US-Bundesstaaten, darunter West Virginia, Oklahoma und Kentucky, die spontan im April 2018 begann, konnte wider Erwarten weitreichende Erfolge erzielen. An einem weiteren Streik der United Teachers Los Angeles (UTLA), der Gewerkschaft der Lehrkräfte, beteiligte sich 2019 mit 30 000 von 34 000 Lehrer*innen eine überwältigende Mehrheit der Beschäftigten. Neben höheren Löhnen und kleineren Klassen setzten sie auch Grünflächen an jeder Schule und einen Rechtshilfefonds für von Abschiebung bedrohte Schüler*innen durch. Zudem konnte mit dem ersten Streik seit 1989 die angekündigte Ausweitung von Privatschulen verhindert werden.
Auf dem Weg zu diesem historischen Erfolg trafen die Gewerkschafter*innen auf enorme Schwierigkeiten: das restriktive US-Streikrecht, die neoliberal geprägten politischen Rahmenbedingungen in Kalifornien, eine seit Jahrzehnten kaputtgesparte öffentliche Schullandschaft und eine mit Privatisierungsbefürwortern besetzte Leitung der Schulbehörde. Wie gelang es der Gewerkschaft, trotzdem erfolgreich zu sein, und was können deutsche Gewerkschaften daraus lernen?
Gemeinwohl im Mittelpunkt
Die hohe Streikbeteiligung verdankte sich dem jahrelangen Aufbau von Gewerkschaftsmacht mittels sogenannter Organizing-Methoden zur Mobilisierung der Basis. Schon seit 2015 zielten diese in Los Angeles auch darauf ab, Elternbündnisse einzubinden. Mit dem Ansatz des »Bargaining for the Common Good« (»Verhandeln für das Gemeinwohl«) stellte die Lehrergewerkschaft nicht Gehaltsforderungen, sondern das Gemeinwohl in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung: ein besseres und ausfinanziertes Bildungssystem. Im Bündnis mit Schüler*innen, Eltern und der lokalen Community stellten die UTLA und andere Lehrergewerkschaften zu Beginn der Tarifrunde gemeinsame Forderungen auf, die über Gehaltserhöhungen und kleinere Klassen hinausgingen und damit rechtlich nicht als tariffähig galten. Angesichts der massiven Unterfinanzierung der Schulen drohten bloße Lohnforderungen in der Bevölkerung, aber auch unter den Lehrkräften selbst, als zynisch wahrgenommen zu werden. Mit dem Fokus aufs Gemeinwohl hingegen konnte breit getragener politischer Druck gegen die Austeritätspolitik aufgebaut werden.
Das Gemeinwohl in den Fokus zu nehmen und mit gewerkschaftlichen Forderungen zu verknüpfen, ist kein völlig neuer Ansatz. Beschäftigte vieler Berufe wünschen sich neben ausreichender Bezahlung ein Arbeitsumfeld, das ihre Tätigkeit nicht konterkariert. So setzen sich Pflegekräfte für mehr Personal ein, weil sie die mangelhafte Versorgung der Patient*innen mit ihrem Pflegeethos nicht vereinbaren können. In Deutschland unterstreicht ihr Slogan »Mehr von uns ist besser für alle«, wie unmittelbar hier die Anliegen von Beschäftigten und das Gemeinwohl in eins fallen.
Die Streiks der Lehrkräfte in den USA intensivierten, systematisierten und popularisierten die gemeinwohlorientierte Herangehensweise: So wurden erstens die Forderungen zusammen mit Bündnispartnern und Betroffenen aufgestellt und eine gemeinsame Strategie für die Tarifrunde entwickelt. Dadurch entstanden enge und langfristige Beziehungen. Die Forderungen nahmen zweitens die jeweils speziellen Anliegen aller Betroffenen auf. Und drittens setzten die Beschäftigten ihre Macht in den Tarifverhandlungen gezielt für diese Gemeinwohlforderungen ein – in Form von Arbeitsniederlegungen. Weil die Behörde kein verhandlungsfähiges Angebot vorlegte, rief die UTLA schließlich zu einem sechstägigen Streik auf. Dadurch verschoben sich die Kräfteverhältnisse deutlich. Neben dem fast vollständigen Ausstand an den Schulen zeigten die täglichen Demonstrationen mit etwa 60 000 Lehrkräften, Schüler*innen und Eltern, dass die gesellschaftliche Stimmung auf Seiten der Streikenden war.
Bündnisarbeit und Massenstreiks
Diese Verknüpfung von Bündnisarbeit und Massenstreiks entfaltete ausreichend politischen Druck für die gewerkschaftlichen Forderungen. Zwar reagierte die Schulbehörde in Los Angeles zunächst mit einer Klage. Angesichts der drohenden Illegalisierung des Arbeitskampfes strich die UTLA die nicht tariffähigen Forderungen formal aus ihrem Verhandlungskatalog, sicherte ihren Bündnispartnern jedoch zu, die Themen der Community weiterhin stark zu machen, wenn es zu Verhandlungen käme. Auf diese Weise ließ die Zusammenarbeit des Bündnisses die Klage der Schulbehörde ins Leere laufen. Unter hohem politischem Druck intervenierten schließlich der Bürgermeister von Los Angeles und der Gouverneur des Bundesstaates Kalifornien und zwangen die Schulbehörde, auf die Lehrkräfte zuzugehen. Die Strategie der UTLA – die Annahme der Forderungen der Community zur politischen Vorbedingung von Tarifverhandlungen zu machen – ging auf.
Viele Anregungen zur Erneuerung der Gewerkschaftsarbeit kommen aus den USA, weil die dortigen Gewerkschaften sich unter sehr viel härteren Bedingungen als hierzulande durchsetzen müssen. Auch in der Bundesrepublik verschlechterten verschärfte Austeritätsregeln und Privatisierungen seit Anfang der 1990er Jahre die Arbeitsbedingungen im Nahverkehr, in Kliniken oder bei der Post massiv; der permanente Sparzwang blutet den öffentlichen Dienst aus. Die Gewerkschaften, die sich lange auf ein sozialpartnerschaftliches Verhältnis zu den öffentlichen Arbeitgebern verlassen haben, werden durch diese Politik – die mit der Zersplitterung des Flächentarifvertrags einherging – deutlich geschwächt. Gleichzeitig belastet die sinkende Qualität öffentlicher Dienstleistungen Bürger*innen wie öffentlich Bedienstete.
Öffentlichkeit durch größere Bündnisse
Vor allem Pflegekräfte stellen sich seit einigen Jahren dieser Entwicklung entgegen und konnten erste Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und der Gesundheitsversorgung durchsetzen. So streikten die Beschäftigten in den Kliniken in Berlin und Nordrhein-Westfalen nicht nur über 30 bzw. 77 Tage lang, sondern entwickelten auch eine flankierende politische Kampagne. Verdi legte den Beginn der Auseinandersetzung bewusst in die jeweils anstehenden Landtagswahlkämpfe, um die Politik unter Druck zu setzen, und erreichte, dass die Klinikleitungen auf Weisung der Landesregierungen auf die Beschäftigten zugingen. Die Lage in den Krankenhäusern ist allerdings noch immer prekär – mit der katastrophalen Versorgungssituation rund um den Jahreswechsel und den angekündigten Änderungen der Krankenhausfinanzierung durch Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist nun wieder Bewegung in die Debatte gekommen. Damit sich grundlegend etwas zugunsten der Kranken und der im Gesundheitssektor Beschäftigten ändert, müssen neben Klinikleitungen und Landespolitik insbesondere diejenigen in den Blick genommen werden, die auf Bundesebene die Austeritätsregeln verändern können. Hierbei sollten sich die deutschen Gewerkschaften an den Strategien ihrer amerikanischen Kolleg*innen orientieren.
Denn der Ansatz »Bargaining for the Common Good« geht in grundlegenden Aspekten über die hiesige Bündnispolitik hinaus. Auch wenn deutsche Gewerkschaften häufig mit dem Allgemeininteresse argumentieren, verzichten sie darauf, gemeinsam mit potenziellen Bündnispartnern Positionen zu erarbeiten und schrecken davor zurück, gesellschaftspolitische Forderungen in den Tarifverhandlungen aufzugreifen. Denkbar wäre, gemeinsam mit Patienteninitiativen, Fachgesellschaften sowie Medizin- und Pflegewissenschaft Forderungen zu notwendigen Personalstandards und Veränderungen in den Kliniken zu entwickeln. Diese könnten zusammen mit lokalen Bündnissen Öffentlichkeit schaffen und die Bundespolitik ins Visier nehmen wie auch Streiks vor Ort unterstützen. Eine bundesweite Auseinandersetzung um die Krankenhausversorgung, bei der eine breite politische Bündniskampagne und die Streikmacht der Beschäftigten ins Feld geführt werden, könnte die Überwindung der jahrelangen Unterfinanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge einläuten.
Gewerkschaftliche Macht nutzen
Weitere Ansatzpunkte für strategisch angelegte Konflikte, bei denen Gemeinwohl und Beschäftigteninteressen unmittelbar zusammenfallen, sind Personalquoten in Schulen und Kitas. Entlastungsforderungen waren ein wichtiger Baustein in den Konflikten im Sozial- und Erziehungsdienst Anfang 2022, immer wieder finden beispielsweise in Berlin Streiks der Lehrkräfte für kleinere Klassen statt. In der kommenden Tarifrunde 2024 im öffentlichen Nahverkehr kann Verdi sogar auf Bündniserfahrungen mit Fridays for Future vier Jahre zuvor aufbauen, die zeigen, wie gut sich Beschäftigteninteressen und Klimaschutz mit der Forderung nach dem Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs verbinden lassen.
Gerade weil sie im Vergleich zu den USA noch über deutlich größere Ressourcen verfügen, könnten die deutschen Gewerkschaften mit offensiven und bündnisorientierten Strategien einer weiteren Erosion ihrer Macht entgegenwirken. Umgekehrt gilt es für Verbände, soziale Bewegungen und Initiativen, die gewerkschaftliche Macht zu nutzen und Tarifrunden als Gelegenheiten zu begreifen, um für eine auskömmliche Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge zu streiten.
Fanny Zeise ist Referentin für Gewerkschaften bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
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