Berlin: Demonstrieren bis zum Umfallen

Schon am Vortag des 1. Mai kommt es zu ersten Auseinandersetzungen zwischen Linken und Polizei

  • Nora Noll, Louisa Theresa Braun, Yannic Walther
  • Lesedauer: 4 Min.

Auch Linke haben ihr Brauchtum. Am 1. Mai gibt es davon reichlich. Für die einen ist die Gewerkschaftsdemo am Mittag Pflichtprogramm, für andere ist es das abendliche Belauern mit der Polizei in Kreuzberg. Vielleicht auch aus einer Unzufriedenheit mit dem ewig gleichen, erfreuen sich seit ein paar Jahren weniger traditionelle Demonstrationen großen Andrangs.

»Whose streets? Our streets« schallte es bereits am Sonntagabend durch Kreuzberg. Anstatt in den Mai zu tanzen, nahmen laut Polizeiangaben rund 3300 Feminist*innen an der dritten »Take back the Night«-Demonstration teil und beanspruchten die Hoheit über die Straße. Denn Cis-Männer, also jene, die sich mit dem ihnen bei Geburt zugewiesenen männlichen Geschlecht identifizieren, waren ausdrücklich nicht erwünscht. Nur Frauen, Lesben, inter, nichtbinäre, trans und agender Personen (FLINTA) sollten sich beteiligen. Die Teilnehmer*innen forderten reproduktive Selbstbestimmung und das feministische Konsensprinzip ein. Andere Demo-Rufe drückten Solidarität mit der kurdischen und iranischen Revolution aus, lehnten Abschiebungen ab oder richteten sich explizit gegen die Polizei.

Die Polizei selbst war in diesem Jahr nicht zu übersehen. Schon tagsüber zeigten die Beamt*innen Präsenz in Berliner Parks. Nach eigenen Angaben sind an dem gesamten langen Wochenende 6300 Polizist*innen im Einsatz, viele davon aus anderen Bundesländern. Bei der Demonstration am Abend bildete die Polizei kurz nach dem Beginn am Mariannenplatz Spaliere und rahmte bis zum Ende auf der Skalitzer Straße den Demonstrationszug so dicht wie möglich ein. Transparente waren so von außen nicht mehr zu sehen, die Veranstaltung wirkte wie ein wandelnder Gewahrsam. Mehrmals stoppte die Polizei den Protest für teilweise über zehn Minuten. Flaschen waren aus der Demonstration in Richtung Polizei geflogen und Pyrotechnik gezündet worden. Verdi-Gewerkschafter Jörg Reichel berichtete auch von Angriffen aus der Demonstration auf Journalisten.

Auch auf der anderen Seite gab es Gewalt. Beamt*innen zogen Regenschirme aus dem Frontblock, um die Teilnehmer*innen filmen zu können, Polizist*innen schubsten und schlugen. Die Einkesselungs-Strategie scheint ihren Zweck erfüllt zu haben. »Wir sprechen hier von einem störungsfreien Verlauf«, hieß es von der Polizei. Eine Teilnehmerin äußerte sich gegenüber »nd« nach der Demonstration frustriert: »Die schränken unsere Versammlungsfreiheit ein.« Im vergangenen Jahr war es im Zuge der Demonstration zu Vandalismus gekommen.

Verwüstung wollte auch eine satirische Demonstration im Villenviertel Grunewald anrichten. Unter dem Motto »Kohle abbaggern im Tagebau Grunewald« fanden sich am Montagmittag nach Angaben der Polizei 1900 Teilnehmer*innen an der »Abbruchkante sozialer und klimatischer Ungerechtigkeit« ein. Es war ein neuer Ansatz der Gruppe »MyGruni«, die zuvor schon in sozialarbeiterischer Mission den »Problemkiez« immer wieder mit satirischen Demos besuchte. Nun wurde ein selbstgebasteltes Schaufelrad enthüllt, mit dem der Reichtum im Villenviertel abgebaggert werden sollte. »Es sind super viele Initiativen hier und Wahrheiten werden durch die Blume angesprochen«, sagte eine Teilnehmerin, für die die Grunewald-Demo ein Gegenentwurf zu der in Neukölln ist, zu »nd«. Ein anderer selbsternannter »autonomer Bergarbeiter« betont, es gehe durchaus um Inhalte bei der Demonstration und um die Verbindung verschiedener gesellschaftlicher Kämpfe mit einem Augenzwinkern. Dennoch wolle er im Anschluss auch noch zur Revolutionären 1.-Mai-Demonstration gehen.

Diese sollte Montagabend nach Redaktionsschluss von der Neuköllner Boddinstraße bis zum Kreuzberger Oranienplatz führen. 2022 beteiligten sich etwa 14 000 Menschen an dem Aufzug. Trotz abendlicher Rangeleien hieß es damals von der Polizei, die Demonstration sei »deutlich friedlicher« als in den Jahren zuvor abgelaufen. Laut Polizeipräsidentin Barbara Slowik würde die linke Szene dieses Jahr allerdings versuchen, Jugendliche, die an den Ausschreitungen zu Silvester beteiligt waren, zu Krawall zu agitieren.

Ob es nun mehr oder weniger Scherben werden, die am Dienstag zusammen gekehrt werden: Eine nicht unwichtige Demonstration findet ohnehin erst am 2. Mai statt. Zwar blieben die Versuche, das Datum als Kampftag der Arbeitslosen zu etablieren, in Berlin bisher eher erfolglos. Doch für Dienstag 13 Uhr wird anscheinend wieder zum Senefelderplatz aufgerufen. Mit dem Slogan »Wir bleiben unserem Grundsatz treu: queer, pervers und arbeitsscheu« hat sich auch ein queerer Block angekündigt für die Kundgebung, die gegen den Zwang zur Lohnarbeit aufbegehrt. So manch einer fragt sich ohnehin: Die ganze Woche schuften und dann an einem der wenigen Feiertage noch demonstrieren gehen? Am 1. Mai dem Müßiggang nachzugehen müsste doch eigentlich als politisches Statement reichen. Wären da bloß nicht diese Traditionen und Rituale.

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