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Kindergärten: Nichts geht ohne Spielen
Theorie und Praxis liegen in den Kindergärten oft auseinander
Wenn es einen Ort gibt, an dem die Kindergarten-Idee von Friedrich Fröbel lebt, dann ist es natürlich das Fröbelhaus im thüringischen Bad Blankenburg. Ein Kindergarten, der Platz für bis zu 140 Kinder hat und ihnen viele Möglichkeiten zum – na klar – Spielen bietet. Entweder alleine. In kleinen Gruppen. Oder alle gemeinsam, so wie an diesem Vormittag, an dem die Kinder und einige Erwachsene zusammen Taubenhaus spielen.
Friedrich Fröbel gilt als einer der einflussreichsten Pädagogen des 19. Jahrhundert. Er wurde 1782 in Oberweißbach geboren und starb 1852 in Marienthal, das heute zur Gemeinde Bad Liebenstein gehört. Er entwickelte den ersten Kindergarten, für den das kindliche Spiel eine ganz zentrale Bedeutung hatte. Nach Fröbel lernen Kinder vor allem durch Spielen. Das sei »die höchste Stufe der Kindesentwicklung«, schrieb er 1826. Durch das Spielen lernten Kinder Dinge über sich selbst und über die Welt um sie herum.
Was heute wie eine Selbstverständlichkeit klingt und wohl in jedes Konzept für einen Kindergarten eingeflossen ist – auch dort, wo Kinder nicht explizit nach der Fröbelpädagogik betreut werden –, war vor etwa 200 Jahren im Umgang mit Kindern eine kleine Revolution. Über Jahrhunderte hinweg war es nämlich alles andere als normal, dass Kinder spielen durften oder sogar sollten. Meistens mussten sie schon sehr früh beim Arbeiten helfen. sha
Ein Teil der Kinder und die Erwachsenen fassen sich an den Händen und bilden einen Kreis. Andere Kinder knien in der Mitte dieses Kreises. Es wird gesungen, und während der Liedzeile »Ich öffne jetzt das Taubenhaus, die Täubchen fliegen froh heraus« schlüpfen die Kinder aus der Mitte des Kreises unter den Armen der anderen Kinder und Erwachsenen hindurch. Manche rennen nach draußen und dort ein paar Augenblicke herum. Andere schlagen dabei mit den Armen, ganz so, als würden sie fliegen. Kurze Zeit später kehren die Kinder von draußen in ihr menschliches Taubenhaus zurück. Wieder schlüpfen sie unter den Armen der anderen Kinder und der Erwachsenen hindurch. »Und gehen sie abends heim zur Ruh, schließ ich bald mein Türchen zu.«
Es ist eine Szene, die Fröbel ganz sicher gefallen hätte. Schon deshalb, weil er dieses Spiel erfunden hat. Kathrin Bergmann ist es wichtig, dass die Kinder das wissen. »Das wurde schon vor sehr vielen Jahren gespielt«, erklärt sie ihnen, noch ehe die Täubchen losfliegen. »Weil sich das der Herr Fröbel ausgedacht hat.« Sie ist eine der Erwachsenen, die zusammen mit den Kindern den Kreis bilden und die Kinder langsam nach hinten führen, den Kreis größer werden lassen, damit die Tauben genug Platz haben, um auszuschwärmen.
Doch selbst hier, an diesem Ort – in jener Kleinstadt, in der Fröbel 1840 »den ersten «Allgemeinen deutschen Kindergarten» stiftete – kann die Kindergarten-Idee Fröbels nur noch eingeschränkt umgesetzt werden. Wenngleich Bergmann nachdrücklich betont, es gelinge jedenfalls in diesem Kindergarten alles in allem doch sehr gut. «Das hängt aber auch viel am Engagement der Kollegen», sagt sie, die sich selbst nicht als Erzieherin, sondern als Kindergärtnerin bezeichnet und das Fröbelhaus leitet. Gerade in dieser Woche, erzählt sie, hätten sie und ihr Team durch Urlaub und Krankheit wieder einmal das Limit des Möglichen erreicht. «Personal müsste mehr sein», meint sie. Oft fehlt es auch an guten Leuten. Das gilt aber wohl für so gut wie alle Kindergärten in Deutschland.
Unterbesetzte Gruppen nehmen nicht nur Eltern landauf, landab wahr, sondern auch die Erziehungsgewerkschaft GEW kritisiert dies. In vielen Kindergärten kann das Personal viel zu selten das tun, was es nach den Ideen Fröbels eigentlich sollte: Mit den Kindern spielen. Das Personal ist in vielen Einrichtungen so knapp, dass es dort oft nur noch darum geht, die Kinder zu beaufsichtigen, vielleicht sogar, sie zu verwahren, während sich die Kleinen irgendwie selbst beschäftigen müssen.
«In vielen Kindergärten entspricht das der Realität», sagt Kathrin Vitzthum, die thüringische Landesvorsitzende der GEW. Auch Kompetenztests bei Grundschülern zeigten inzwischen regelmäßig Defizite bei Kindern, die auch darauf zurückzuführen seien, dass in vielen Kindergärten inzwischen nicht mehr ausreichend pädagogisch mit ihnen gespielt werde. «Ich gehe schon davon aus, dass die Kindergärten bemüht sind, so etwas zu tun. Aber aufgrund der personellen Situation ist das im Grunde genommen gar nicht zu schaffen.»
Innerhalb der GEW gebe es Menschen, die deshalb insbesondere dann hellhörig würden, wenn Kindergärten mit sogenannten «offenen Konzepten» arbeiteten, sagt Vitzthum. Dabei können sich die Kinder in der Regel überall in den Einrichtungen bewegen. In den meisten Einrichtungen gibt es keine festen Gruppen mehr. Manche bei der Gewerkschaft sehen darin weniger ein eigenes pädagogisches Konzept als vielmehr den Versuch, mit dem eklatanten Personalmangel in den Häusern irgendwie klarzukommen.
In der Praxis kann Fröbels Idee in den Kindergärten oft nicht mehr umgesetzt werden, weil die Voraussetzungen dafür fehlen. Dabei haben seine Überzeugungen gerade erst in den vergangenen Wochen eine besondere Wertschätzung erfahren. Erst im März sind sie in das bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden.
Der Weg bis dahin war allerdings lang. Zweimal waren vergleichbare Bewerbungen um die Aufnahme in dieses Verzeichnis gescheitert. Seit 2020 hatte der Fröbel-Kreis, vertreten durch die Stadt Bad Blankenburg, an dieser erneuten Bewerbung gearbeitet. Am Ende, sagt die Ethnologin Juliane Stückrad, die als Beraterin die Antragstellung unterstützte, sei sie nicht zuletzt deshalb erfolgreich gewesen, weil sie gemeinsam mit dem Pestalozzi-Fröbel-Verband aus Berlin und der in Kassel ansässigen International Froebel-Society-Deutschland eingereicht worden sei. So, sagt Stückrad, sei deutlich geworden, wie wirkmächtig die Ideen Fröbels bis heute seien.
In einigen Jahren könne es sogar erfolgversprechend sein, die Kindergarten-Idee Fröbels zur Aufnahme in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit vorzuschlagen. «Das muss sich jetzt erst mal im Bundesverzeichnis etablieren», meint Stückrad. Unmöglich sei das aber nicht. Ähnlich sieht es auch Thüringens Kulturstaatssekretärin Tina Beer, die wie Stückrad zu den Erwachsenen gehört, die an diesem Tag im «Fröbelhaus» den Kreis für das Taubenhaus bilden. Die Aufnahme von Fröbels Ideen in das deutsche Kulturerbe-Verzeichnis sei bereits ein großer Erfolg, der seinen Konzepten sicher auch neue Aufmerksamkeit bringen werde.
Auf der praktischen Ebene wird die Frage, wie sehr Fröbel heute eigentlich noch in Kindergärten gelebt werden kann, allerdings ein dauerhaftes Thema in den Kindergärten sein. In Thüringen spätestens dann, wenn im Landtagswahlkampf 2024 wieder politisch darüber debattiert wird, ob es ein weiteres beitragsfreies Kindergartenjahr braucht – oder ob das dafür aufzuwendende Geld nicht lieber dafür verwendet werden sollte, um mehr Fachkräfte einzustellen. Dann könnte es mehr Zeit geben, in der Erzieherinnen und Erzieher – ganz im Sinne Fröbels – mit Kindern zu spielen, statt sie lediglich zu beaufsichtigen.
Schon bei der Einführung des zweiten beitragsfreien Kindergartenjahrs vor drei Jahren hatte es eine solche Debatte gegeben. Nun dürfte sie in Thüringen noch intensiver geführt werden. Weil nämlich weniger Mittel als damals für solche Projekte im Landeshaushalt zur Verfügung stehen und die Personalnot in vielen Kindergärten seit damals eher größer geworden ist. Darüber können auch jene drei Einrichtungen in Weimar nicht hinwegtäuschen, die angesichts sinkender Anmeldungen von Kindern möglicherweise geschlossen werden.
Grundsätzliche Diskussionen wird es auch darüber geben, wie viel pädagogisches Spielen in Kindergärten heute eigentlich richtig ist und welchen Stellenwert es einnehmen soll. Obwohl eine Balance zwischen Arbeit und Leben insbesondere bei jungen Familien heute eine deutlich größere Rolle spielt als das noch vor zehn oder fünfzehn Jahren , werden viele Kinder sowohl durch Kindergärten als auch durch ihre Eltern zu einer Reihe von Aufgaben verpflichtet. So ist es keine Seltenheit, wenn vierjährige Kinder pro Woche mehrere Nachmittagstermine haben – Ballett, Musizieren oder Yoga –, während sie doch eigentlich viel lieber mit ihren Freunden oder Eltern die Welt spielerisch entdecken würden. Oft wird von einer «frühkindlichen Bildung» gesprochen, dieser Ansatz zeugt aber davon, dass pädagogisches Spielen heute vielerorts zu kurz kommt, weil Kinder schon in der Kita auf «den Ernst des Lebens» vorbereitet werden sollen.
Manche der Kinder, die an diesem Vormittag aus dem Taubenhaus hinaus und kurze Zeit später wieder dort hineinflattern, werden den Ausgang dieser Diskussionen ganz sicher nicht mehr als Kindergartenkinder erleben. Sie werden in diesem oder im nächsten Jahr eingeschult. Aber an dieses Spiel werden sie sich auch dann noch sicherlich gerne erinnern.
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