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Wahlen in der Türkei: »Alles ist besser als Erdoğan«

Wird er nun abgewählt? Über die Zukunft der Türkei entscheiden auch Wähler in Deutschland

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 10 Min.
In Deutschland lebende Türk*innen können noch bis zum 9. Mai ihre Stimme für die türkische Parlaments- und Präsidentschaftswahl abgeben.
In Deutschland lebende Türk*innen können noch bis zum 9. Mai ihre Stimme für die türkische Parlaments- und Präsidentschaftswahl abgeben.

Die Wahlen in der Türkei rücken näher. Am 14. Mai werden sowohl ein neues Parlament als auch ein neuer Präsident gewählt. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan strebt eine weitere Amtszeit an, doch könnte es eng für ihn werden. Erwartet wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

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Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.

»Erdogan und sein Ein-Mann-System müssen weg. Die Menschen in der Türkei haben genug von Krieg, Inflation, Armut und ethnischer Spaltung im Land«, ist Mehtap Erol überzeugt. Die Anfang-50-Jährige ist Pflegefachkraft und Berlinerin – und im türkischen Wahlkampf aktiv. Denn auch türkische Staatsbürger*innen mit Wohnsitz im Ausland können wählen. Rund 3,4 Millionen Menschen sind weltweit zur Wahl aufgerufen und stellen insgesamt knapp sechs Prozent aller türkischen Wahlberechtigten. Beim erwarteten engen Rennen können sie entscheidend sein. Daher sind sie von den Parteien entsprechend stark umworben. Die größte Gruppe der Auslandstürken lebt in der Bundesrepublik. Rund 1,4 Millionen Menschen sind hier zur Stimmabgabe berechtigt, allein in Berlin rund 100 000 Menschen.

Neben der regierenden islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) Erdoğans macht auch die linke Yeşil Sol Parti (YSP) Wahlkampf in Deutschland. In Berlin organisiert Mehtap Erol die Parteiaktivitäten der YSP. Als Kind zog Erol mit ihren Eltern aus dem osttürkischen Dersim, das für einen in den 1930er Jahren niedergeschlagenen Kurdenaufstand bekannt ist, nach Berlin. Unter pro-kurdischen Aktivist*innen der deutschen Hauptstadt ist sie eine der aktivsten. Sie war lange Sprecherin der linken Demokratischen Partei der Völker (HDP), ist in der Kurdischen Gemeinde Berlins aktiv und zudem Mitglied der deutschen Linkspartei.

Erol hat viel zu tun. Zusammen mit ihrem Parteikollegen Mazlum Kargöz, der erst seit kurzem in Deutschland lebt und für die YSP aktiv ist, kommt sie zum vereinbarten Interviewtermin in Berlin-Kreuzberg zwar pünktlich und berichtet ausführlich und freundlich über den Wahlkampf, doch merkt man ihr an, dass Zeit gerade Mangelware ist. Nach dem Gespräch, das häufiger von den Rauchpausen der beiden als durch die andauernden Anrufe, die sie freundlicherweise wegdrücken, unterbrochen wird, müssen Erol und Kargöz sofort zum nächsten Termin: Ein Fernsehsender wartet schon auf die Aktivist*innen. »Wir freuen uns darüber, wenn über uns berichtet wird«, erzählt Karagöz. »Die Stimmung in Deutschland ist sehr positiv. Wir haben gerade Rückenwind«, ergänzt er und berichtet vom Wahlkampf der Partei in Deutschland – und von seinen Hoffnungen auf das Ende des Erdoğan-Regimes.

Die YSP ist gewissermaßen die Ausweichpartei der HDP, die bei den letzten Wahlen 2018 knapp 12 Prozent der Stimmen erreichte und die absolute Mehrheit Erdoğans zunichtemachte. Aktuell ist die HDP in der Türkei jedoch von einem Parteiverbot bedroht. Die türkische Justiz wirft ihr Verbindungen zur verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK vor. Um die Gefahr eines Verbots zu umgehen, gab die HDP unlängst bekannt, ihre Kandidat*innen auf der Liste der bereits 2012 gegründeten YSP aufzustellen. »Das ist schon ein Nachteil, da wir nun unsere Strukturen komplett umbauen müssen«, erklärt die Kurdin Erol. »Aber unsere Partei ist in den letzten Jahrzehnten schon so oft verboten worden, dass wir fast daran gewöhnt sind. Es geht ja nicht um den Namen, sondern um die Inhalte.« Lachend ergänzt Malzum Karagöz: »Es gibt ja genügend Buchstaben für weitere Abkürzungen, sodass wir unsere Partei auch nochmals umbenennen können.«

Die YSP ist eine linke Partei, die alle Bevölkerungsgruppen in der Türkei erreichen will. Sie steht unter anderem für den Schutz von Minderheitenrechten, insbesondere der Kurd*innen. »Für uns ist es wichtig, gemeinsam in einem demokratischen Land zu leben. Egal welches Geschlecht, welche Ethnie, welcher Glaube, welche Kultur oder welche Hautfarbe. Wir wollen Gleichberechtigung für alle«, so fasst Karagöz die Ziele der Partei zusammen. Damit will die YSP auch in Deutschland die Wähler*innen überzeugen – und steht damit den nationalistischen und islamistischen Vorstellungen Erdoğans und seiner AKP diametral gegenüber.

Wie in der Türkei, so setzt die YSP auch in Deutschland auf Basisarbeit. Sie hat in zahlreichen Bundesländern Wahlkampfkommissionen gegründet. Aktivist*innen besuchen Familien, hängen Plakate auf, informieren über die Wahl, verteilen Broschüren und stecken Flyer in Briefkästen. »Allein in Berlin haben wir drei Wahlkampfbüros eröffnet«, erklärt Mazlum Karagöz. In Städten wie Salzgitter, Duisburg, Mannheim, Karlsruhe und Stuttgart wurden ebenfalls Büros eröffnet. »In Berlin konzentrieren wir uns auf Spandau, Wedding, Kreuzberg, Neukölln und Wittenau«, ergänzt Mehtap Erol. Die Arbeit in den Bezirken gründet auf der Basis- und Nachbarschaftsarbeit, wie sie in den kurdischen Gebieten in der Türkei seit Jahrzehnten umgesetzt wird. »Wir gehen von Haus zu Haus und bauen direkten Kontakt mit den Menschen auf«, erläutert sie die Strategie der Partei.

Zunächst informieren die Wahlkämpfer*innen grundsätzlich über die Wahl und motivieren zur Teilnahme. »Für viele ist immer noch unklar, ob sie mit doppelter Staatsbürgerschaft überhaupt wählen dürfen und was sie machen müssen«, macht Erol auf die Probleme aufmerksam. Parteimitglieder unterstützen daher bei rechtlichen Fragen, haben eine Telefonberatung eingerichtet und bieten zudem Fahrdienste für alle an, die nicht allein wählen gehen können – Menschen mit Krankheiten, Behinderungen und ältere Menschen. Gewählt wird im türkischen Konsulat, an dem sich die Wähler*innen zunächst anmelden müssen, erklären die Aktivist*innen.

Recep Tayyip Erdoğan selbst hat die kommende Wahl als »Schicksalswahl« bezeichnet. Er regiert die Türkei seit 20 Jahren, zuletzt immer autoritärer. Viele kritische Intellektuelle oder Politiker*innen haben das Land verlassen, weil sie sich bedroht fühlen, so wie etwa der Journalist Can Dündar. Laut dem Demokratieindex der Zeitschrift »Economist« liegt die Türkei auf Platz 103 von 167 untersuchten Ländern. Die Demokratie sei »erheblich eingeschränkt«. Vor den Wahlen wurde etwa Ekrem İmamoğlu, der Bürgermeister von Istanbul, wegen Beamtenbeleidigung verurteilt. Er galt als aussichtsreicher Kontrahent Erdoğans um die Präsidentschaft.

»Es gibt schon lange wirklich freien Wahlen mehr in der Türkei«, erklärt auch Alp Kayserilioğlu im Gespräch mit dem »nd«. Der Politikwissenschaftler promoviert zu Widerstand in der AKP-Ära und lebt derzeit in Istanbul. »Die Regierung nutzt ihre Kontrolle über die zentralen Staatsapparate und die Medien dazu aus, ein sehr ungleiches Terrain für den Wahlkampf zu schaffen«, fügt er hinzu. Denn auch um die Pressefreiheit ist es nicht gut bestellt. »Reporter ohne Grenzen« stufte die Türkei 2023 auf Platz 165 von 180 im Ranking der Pressefreiheit ein. Dazu passt, dass Ende April über 100 aktive Kurd*innen, unter ihnen Medienschaffende und Politiker*innen der YSP bei einer koordinierten Razzia festgenommen wurden. »Erdogan fürchtet um seine Macht und versucht alles, um die Opposition einzuschüchtern«, ist sich Kayserilioğlu sicher.

Doch gerade nach dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und in Syrien im Februar, bei dem mehr als 52 000 Menschen starben, ist die Kritik an Erdoğan in der Türkei intensiver geworden. Vor allem die Betroffenen sehen, dass Erdoğans Präsidialsystem die Türkei an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Selbst viele AKP-Anhänger*innen werden in den Erdbebengebieten wohl nicht zur Wahl gehen. Die Opposition hat dagegen ein deutlich größeres Mobilisierungspotenzial. »Es ist also im Interesse von Erdoğan und der AKP, dass möglichst wenige Menschen in den betroffenen Gebieten wählen können«, führt der Politologe Kayserilioğlu weiter aus. Aus ihrer Erfahrung im Wahlkampf stimmt ihm auch Mehtap Erol zu: »Selbst in der AKP-Stammwählerschaft gibt es viele, die nun sagen, dass 20 Jahre Erdoğan genug sind.« Die Enttäuschung der Menschen in der Türkei nehme spürbar zu. Die wirtschaftliche Lage im gesamten Land ist schlecht, die Erwerbslosigkeit hoch, die Inflation galoppiert.

Auch unter den türkischen Staatsbürger*innen in der Bundesrepublik dreht sich der Wind gegen den Präsidenten. Bei den Wahlen 2018 stimmten sie noch überproportional häufig für Erdoğan. Damals kam er auf knapp 53 Prozent der Stimmen, in Deutschland waren es fast 65 Prozent. Um diesen Erfolg zu wiederholen, engagieren sich AKP-Unterstützer stark in Moscheen und türkischen Gemeinden in der Bundesrepublik. Die AKP hat die volle Kontrolle über die »Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion« DITIB mit ihren über 900 Gemeinden, die nun zu Parteihäusern werden. »Über 150 AKP-Abgeordnete, Minister und Bürgermeister waren in ganz Deutschland unterwegs, in Moscheen, Unternehmerverbänden und Kulturvereinen«, hat der Journalist Eren Güvercin herausgefunden.

In der Türkei finden die Wahlen am 14. Mai statt. In Deutschland begann der Urnengang für türkische Staatsbürger*innen bereits am 27. April. Sie können bis zum 9. Mai wählen. Der aussichtsreichste Kandidat für das Präsidentenamt ist Kemal Kılıçdaroğlu von der kemalistischen CHP, der ein Bündnis aus sechs Oppositionsspartein anführt. Dieses Bündnis verbindet nicht viel mehr als das gemeinsame Ziel, die Präsidentschaft Erdoğans zu beenden. Die YSP hat selbst keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufgestellt, sondern unterstützt – zähneknirschend – Kılıçdaroğlu. »Mit ihm ist es nicht leicht«, erklärt die YSP-Aktivistin Mehtap Erol. »Auch die CHP betreibt eine antikurdische Politik. Ich glaube nicht, dass Kılıçdaroğlu die Kurdenfrage in der Türkei lösen will. Aber alles ist besser als Erdoğan.« Nach dem Abbruch der Friedensgespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK 2015 begann Erdoğan einen »Städtekrieg« in den kurdischen Gebieten der Türkei, bei dem Hunderte Menschen starben. »Wir hoffen, dass es unter einem neuen Präsidenten leichter wird, Probleme im Dialog zu lösen und demokratische Politik im Parlament zu machen«, so Erol.

Skeptischer ist da der Politologe Alp Kayserilioğlu. Für ihn ist nicht ausgemacht, dass nicht auch bei einer Wahl Kılıçdaroğlus ein »Erdoğanismus ohne Erdoğan« fortbesteht. Er hofft jedoch, dass durch den Sieg der Opposition die »derzeitigen Faschisierungsprozesse unter Führung von Erdoğan« aufgeweicht werden: »Die daraus entstehenden Freiräume und der dann eventuell erneut aufflammende Tatendrang und Aktivismus widerständiger Energien müssten allerdings schnell von der Linken um die YSP genutzt und in Richtung einer umfassenden Demokratisierung kanalisiert werden.«

Hier werden Mehtap Erol und Mazlum Karagöz sicher zustimmen. Die beiden Aktivist*innen sind mit ihrem bisherigen Wahlkampf durchaus zufrieden und hoffen auf ein ähnlich gutes Ergebnis wie bei der letzten Wahl. »Wenn wir auf der Straße stehen und Wahlkampf machen, kriegen wir viel Zuspruch – auch Deutsche lächeln uns zu und hoffen, dass Erdoğan gehen muss. Wenn man das hört, geht einem das Herz auf. Das macht schon Mut«, sagt Erol. Doch auch in Deutschland muss die YPS gegen ihre Kriminalisierung kämpfen. »Auch hier werden wir häufig auf die PKK reduziert«, ergänzt Karagöz. »Bei jeder Aktion, die wir machen, werden wir sofort mit polizeilichen Auflagen drangsaliert, dass wir etwa das Bild des PKK-Gründers Abdullah Öcalan nicht zeigen dürfen – auch wenn es um etwas ganz anderes geht.« Wie in der Türkei ist auch in Deutschland die PKK verboten. Doch lassen sich die YPS-Aktivist*innen davon nicht abhalten und hoffen, durch ihre Arbeit an der Demokratisierung der Türkei mitzuwirken – ohne Erdoğan.

Für die Aktivist*innen hätte eine demokratische Türkei ohne Erdoğan auch ganz persönliche Folgen. Zum Ende des Gesprächs äußert Mazlum Kargöz, der aufgrund seiner politischen Aktivitäten nicht mehr in die Türkei einreisen und daher seine Familie nicht mehr sehen kann, noch eine ganz private Hoffnung: »Ich würde mir gerne ein Flugticket in die Türkei buchen – im besten Fall direkt für den Tag nach der Wahl, wenn Erdoğan abgewählt ist.« Man versteht nun besser, welch umfassende Bedeutung der Wahlausgang für Menschen wie Mehtap Erol oder Mazlum Kargöz hat und warum sie sich, auch in Deutschland, so stark engagieren.

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