»Ich habe gekämpft …«

Hans-Hermann Klare erinnert an Philipp Auerbach – eine jüdisch-deutsche Tragödie

  • Stefan Berkholz
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gab sie, die aufrechten, mutigen, standhaften Menschen. Nur blieben sie meist auf der Strecke im Meer von Mitläufern und Verrätern. So auch Philipp Auerbach, einer der wichtigsten jüdischen Funktionäre in Westdeutschland. Die »Stunde Null« nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein Trugbild. Ein Neuanfang wurde nach Kriegsende nicht versucht. In Ämtern und Gerichten saßen die alten Nazis. Alte Eliten wurden zu neuen Eliten und die Verfolgten erneut zu Störenfrieden. »Sie werden uns nie verzeihen«, konstatierte der Dichter Walter Mehring 1948, »dass wir uns nicht haben erschlagen oder ein bisschen vergasen lassen«.

Philipp Auerbach, im Dezember 1906 geboren, war einer der wichtigsten jüdischen Funktionäre in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Er hatte Auschwitz und Buchenwald überlebt, doch er blieb im Gegensatz zu vielen Leidensgefährten in Deutschland, wurde Mitglied der SPD. Von der britischen Militärregierung erhielt er den offiziellen Auftrag, Überlebenden aus den Lagern zu helfen und sie zu unterstützen. Im September 1946 wurde er von der US-amerikanischen Militärverwaltung zum »Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte« in München ernannt. Damit war er auch für die Wiedergutmachung zuständig. Eine große Behörde sollte aufgebaut werden, um Holocaust-Überlebenden finanziell und organisatorisch beizustehen, wenn sie Deutschland verlassen wollten.

Mit drei Mitarbeitern fing Auerbach in einem kleinen Büro an, bald wuchs seine Behörde auf 170 Mitarbeiter, hatte Außenstellen in Augsburg und Regensburg. Es ging zunächst um die nötigste Versorgung für Überlebende, um eine Unterkunft und dann um Visa-Erteilung, denn die meisten wollten auswandern, nach Palästina oder in die USA. In den Jahren bis 1952 gelang es, rund 100 000 Juden die Ausreise zu ermöglichen. Bei den Deutschen, die nicht Opfer waren, machte sich Auerbach unbeliebt. Er wurde verdächtigt und gehasst, denn er setzte sich für Wiedergutmachung und Rückübertragungen ein, argumentierte öffentlich gegen die Wiedereingliederung ehemaliger Nazis. Damit wurde er zum Außenseiter in einer stramm verdrängenden Republik.

Zudem wirkte Auerbach in seiner Arbeit als Behördenleiter unorthodox. Zum Beispiel verlangte er Provisionen für erteilte Auftragsarbeiten. Aber nicht etwa, um sich zu bereichern, wie ihm am Ende vorgeworfen wird, sondern um Geld für die Behörde einzusammeln und damit Opfer zu unterstützen. Korrekte preußische oder bayerische Amtsführung war das nicht, aber im guten Glauben, traumatisierten Menschen um jeden Preis helfen zu müssen. Richter mit NS-Vergangenheit drehten Auerbach daraus einen Strick. Seine Behörde wurde geschlossen, es gab eine gewaltige Razzia. Diffamierungen wurden in die Welt gesetzt, Grundlage für einen Prozess mit Richtern, die bereits NS-Henker Roland Freisler gedient hatten. Es war Rache an diesem unbotmäßigen Überlebenden Auerbach, seine juristischen Verfolger mit Blut an ihren braunen Westen warfen ihm Bestechung, Unterschlagung und Korruption vor.

Ein überlebender Jude hatte in diesem vergifteten, westdeutschen Nachkriegsklima kaum Unterstützung zu erwarten. Er war den ehemaligen NS-Häschern ausgeliefert. Alle Versuche seiner Anwälte, die Richter wegen Befangenheit gegenüber einem jüdischen Funktionär und Überlebenden abzulehnen, wurden abgewiesen. Auch der Staatsanwalt sowie der psychiatrische Gutachter waren aktenkundig gewordene Nazis.

Der Höhepunkt der Niedertracht war erreicht, als einer der Richter erklärte, er habe auch gelitten, schließlich sei er in sowjetischer Kriegsgefangenschaft gewesen. Und der Vorsitzende Richter erklärte ungerührt, wie sehr er als deutscher Soldat gelitten habe. Zwischen Tätern und Opfern wurde kein Unterschied gemacht, so war das damals, in den Gründungsjahren der Bundesrepublik. Gnadenlos und gewalttätig lieferten die Richter Auerbach der juristischen Unrechtsmaschine aus, brachten ihn zur Strecke, verurteilten ihn im August 1952 zu zweieinhalb Jahren Gefängnis, obwohl von den Vorwürfen kaum etwas übriggeblieben war. Noch in der Nacht nach seiner Verurteilung nahm Auerbach sich das Leben. In seinem Abschiedsbrief schrieb der 45-Jährige: »Ich habe mich niemals persönlich bereichert und kann dieses entehrende Urteil nicht ertragen. Ich habe bis zuletzt gekämpft, es war umsonst.«

Die deutsche Presse nahm ungerührt Notiz davon, die »New York Times« hingegen setzte die Verurteilung Auerbachs auf die Titelseite. Auerbachs Sarg wurde mit der israelischen Flagge in einer Münchner Synagoge aufgestellt, eine Menschenmenge konnte Abschied nehmen und ihren Respekt erweisen. Die Beerdigung wurde zu einer Demonstration, rund 2000 Menschen kamen, vor allem Überlebende der Lager. Sie hielten Transparente hoch mit den Worten »Nazi-Richter«. 1954 wurde Auerbach von einem Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags rehabilitiert. Doch bis zur Studentenbewegung, die dem Spuk ehemaliger Nazis auf herausgehobenen Posten wenigstens Einhalt gebot, waren es noch Jahre hin.

Auf dem jüdischen Friedhof in München liegt Auerbach begraben, aber es gibt keine Straße, die nach ihm benannt ist, keinen Gedenkstein, nichts. Nun aber immerhin dieses ergreifende Buch. Hans-Hermann Klare hat erstmals tiefer in die Vita der beeindruckenden Persönlichkeit gegriffen und ein Porträt samt aller Widersprüche verfasst. Keine Heldengeschichtsschreibung also. Eine mitreißende, beklemmende Reportage, klar und eindringlich in der Sprache, übersichtlich gestaltet in Kalenderabschnitten.

Ein verratenes Leben ist in Erinnerung gerufen. Dafür sind Bücher da. Mit solchen Werken wird die Scheibkunst allen digitalen Ablenkungsmedien zum Trotz Bestand haben.

Hans-Hermann Klare: Auerbach. Eine jüdisch-deutsche Tragödie. Oder: Wie der Antisemitismus den Krieg überlebte. Aufbau, 480 S., geb., 28 €.

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