- Politik
- Interview
In Chile schreibt die herrschende Klasse wieder die Verfassung
Der Journalist Leonel Yañez Uribe über das Erstarken der politischen Rechten in Chile nach dem verlorenen Plebiszit
Vor gut einem halben Jahr wurde die neu geschriebene Verfassung in Chile abgelehnt. Bei einem Referendum am 4. September 2022 stimmten satte 62 Prozent gegen den neuen Verfassungsentwurf, der stark ökologisch, sozial und feministisch geprägt war und in den fortschrittliche Kräfte viel Hoffnung gesetzt hatten. Wie ist die politische Konstellation in Chile heute?
Leonel Yañez Uribe ist Journalist und Kommunikationswissenschaftler. Er lehrt an der Universidad de Santiago de Chile, hat mehrere Jahre für NGOs im Kommunikationsbereich gearbeitet.
Nach dem Scheitern der neuen Verfassung ist die politische Rechte erstarkt. Das war abzusehen. Sowohl die reaktionären Sektoren als auch die angeblich demokratische oder gemäßigtere Rechte sind viel stärker geworden. Sie treten wieder mehr so auf wie die Rechte aus der Zeit der Diktatur. Sie denken, dass die Bevölkerung hinter ihnen steht und ihre Politik gut findet. Ex-Präsident Sebastián Piñera ist kürzlich wieder aufgetaucht. Er hat sich mit anderen rechten Präsidenten und Ex-Präsidenten aus Lateinamerika hier in Chile getroffen …
… und sie haben das Rechtsbündnis »Libertad y Democracia«, »Freiheit und Demkratie« gegründet. Wie wirkt sich diese Konstellation auf die Politik der linken Regierung von Gabriel Boric aus? Kann sie ihre Projekte umsetzen und solidarische System in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Pflege aufbauen?
Die Regierungsparteien haben im Parlament keine Mehrheit und müssen deshalb mit den rechten Parteien über alle Projekte verhandeln. Die Rechte blockiert aber Projekte der Regierung von Gabriel Boric. Bei der Steuerreform, einem zentralen Projekt der Regierung, haben die Rechten sich geweigert, zu verhandeln. Die Steuerreform ist nicht durchgekommen. Und deshalb gibt es jetzt auch kein Geld für andere Maßnahmen im Sozialbereich, die darüber finanziert werden sollten: zum Beispiel Projekte im Gesundheitsbereich, geplante Programme für Kinder oder für Frauen.
Gibt es denn auch Erfolge der Regierung Boric?
Ja, die 40-Stundenwoche wurde beschlossen. Damit hängt auch eine Reform des Rentensystems zusammen, das ist aber noch nicht abgeschlossen. Außerdem sind die Zustimmungswerte von Gabriel Boric wieder etwas gestiegen. Bei der Bekämpfung der Waldbrände konnte er etwas punkten, und auch bei den Vorbereitungen zu Aktivitäten rund um den 50. Jahrestag des Putsches am 11. September diesen Jahres.
Ziemliches Aufsehen hat ja ein Gesetz über den Schusswaffeneinsatz der Polizei erregt. Das Gesetz »Nain Retamal« wurde beschlossen. Es trägt die Namen von zwei getöteten Polizisten und wird in der öffentlichen Diskussion auch »gatillo fácil«, übersetzt etwa »schneller Abzug« genannt. Es senkt die Schwelle für den Einsatz von Schusswaffen seitens der Polizei. Wie kam es dazu?
In der öffentlichen Diskussion dreht sich sehr viel um Kriminalität. Es gab Fälle von getöteten Polizisten und zuletzt ging es um eine Polizistin. Nun wurde dieses Notwehrgesetz beschlossen. Es besagt, dass ein Polizist, der bei einem Einsatz jemanden tötet, nicht festgenommen wird, um den Fall zu untersuchen. Sondern, dass er erst festgenommen wird, wenn bewiesen ist, dass er Schuld hat. An diesem Punkt ist es zu einer Trennung des Regierungslagers gekommen: Auf der einen Seite sind da die Parteien des »demokratischen Sozialismus« (Parteien der ehemaligen Regierungskoalition Concertación, d Red.), die für dieses Gesetz sind. Auf der anderen Seite stehen die Abgeordneten der Kommunistischen Partei und der Frente Amplio. Die haben im Parlament gegen diesen Artikel des neuen Sicherheitsgesetzes gestimmt. Im Grunde hat die Rechte hier ihre Agenda durchgesetzt.
Dabei war doch eine Polizeireform geplant, weil sehr viele Verstöße seitens der Polizei gegen die Menschenrechte registriert wurden.
Die Carabineros, die chilenische Polizei hat sich reingewaschen. Obwohl sie sehr stark kritisiert wurden wegen Verstößen gegen die Menschenrechte und wegen brutalen Einsätzen gegen die Protestbewegung. Außerdem auch wegen Unterschlagung von Geldern, da sitzen einige Polizisten sogar in Haft. Scheinbar ist die Notwendigkeit einer Polizeireform damit abgeräumt. Jetzt stellt sich die Polizei selbst als Opfer dar und fordert Gesetze, die ihnen Rückhalt geben.
Wie steht es um den neuen Verfassungsprozess? Im Januar wurde ein Expert*innengremium nach den Kräfteverhältnissen der im Parlament vertretenen Parteien besetzt. Am 7. Mai wird ein weiteres Gremium, der sogenannte Verfassungsrat eingesetzt, der wird von der Bevölkerung gewählt. Wie ist da Ihre Analyse?
Insgesamt ist das Wahlsystem undemokratisch. In Regionen mit wenigen Einwohnern werden teilweise genauso viele Sitze für den Verfassungsrat gewählt wie in Regionen mit sehr vielen Einwohnern. Wir müssen sehen, wie die Wahlen zum Verfassungsrat ausgehen. Denn die 50 Mitglieder des Verfassungsrats werden über die Vorschläge abstimmen, die das Expertengremium macht. Es könnte passieren, dass am Ende mehr Rechte in den Verfassungsrat kommen als Linke. Und die Strategie der Rechten ist, im Zuge einer neuen Verfassung möglichst wenig Änderungen zuzulassen. Sie wollen nicht, dass Chile zu einem sozialen und demokratischen Rechtsstaat wird. Stattdessen wollen sie den subsidiären Staat bewahren, das bedeutet, dass der Markt alles regelt und die Vorherrschaft vor dem Staat hat.
Setzen Sie Hoffnung in den neuen Verfassungsprozess?
Diese Verfassung wird wieder von der herrschenden Klasse geschrieben. Die ist aber weitgehend delegitimiert, hat eine sehr niedrige Akzeptanz. Das ist paradox, denn genau gegen diese Politik hatte ja die soziale Revolte aufbegehrt.
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