Friedrichstraße: Lieber Autos als Obdachlose

Wie geht es weiter mit der Friedrichstraße? Viele Anrainer*innen stören sich am neuen Erscheinungsbild der Fußgängerzone

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 8 Min.
Flaniermeile oder wilder Westen? Noch immer fahren Fahrräder durch die Friedrichstraße, nicht immer im Schritttempo. Ob die Sitzmöbel zum Verweilen – oder wichtiger: zum Shoppen – einladen, muss sich noch zeigen.
Flaniermeile oder wilder Westen? Noch immer fahren Fahrräder durch die Friedrichstraße, nicht immer im Schritttempo. Ob die Sitzmöbel zum Verweilen – oder wichtiger: zum Shoppen – einladen, muss sich noch zeigen.

Die Tragikomödie um die Friedrichstraße in Mitte nimmt kein Ende. Seit dreieinhalb Monaten ist das Teilstück zwischen Französischer und Leipziger Straße nun Fußgängerzone. Pinkfarbene Stelen weisen auf die »Regel für ein gutes Miteinander« hin: Fußgänger*innen haben Vorrang, Fahrräder sollen sich auf Schrittgeschwindigkeit beschränken. Nicht alle Radfahrenden halten sich daran, und ob die in der Häuserschlucht aufgestellten Holzbänke nun einladend oder traurig aussehen, darüber lässt sich streiten.

Das sind aber nicht die einzigen Gründe, weshalb der Shitstorm gegen Mittes Bezirksbürgermeisterin Stefanie Remlinger und ihre Bezirksstadträtin für Natur und Straßen, Almut Neumann (beide Grüne), nicht abreißt. Die erneute Sperrung für den Autoverkehr sei Ende Januar ohne Konzept, ohne die Anrainer*innen und völlig überstürzt durchgezogen worden. Letztlich sei die Aktion »eine reine Wahlkampfnummer« der Grünen gewesen, allen voran der Mobilitätssenatorin Bettina Jarasch. So jedenfalls geißelte Jaraschs alsbaldige Nachfolgerin Manja Schreiner (CDU) die Umwidmung in einem Interview mit TV Berlin kurz vor den Wiederholungswahlen. »Das kann man ja gar nicht mehr ernst nehmen«, befand sie.

Schon vor zwei Jahren wurde der Teilabschnitt der Friedrichstraße im Rahmen eines Verkehrsversuchs das erste Mal für Autos gesperrt. Die grüne Mobilitätsverwaltung verbuchte das Projekt als Erfolg und verlängerte es um ein weiteres Jahr. Anja Schröder, Inhaberin eines Weingeschäfts in der parallel verlaufenden Charlottenstraße, klagte erfolgreich dagegen – heute ist sie das Gesicht des Aktionsbündnisses »Rettet die Friedrichstraße«, das mit »Rettung« ein Ende der aktuellen Verkehrsberuhigung meint. Auch die seinerzeitige Senatschefin Franziska Giffey (SPD), jetzt Wirtschaftssenatorin, erklärte im Januar: »Ich halte diesen Alleingang nicht für durchdacht. Erst sperren, dann planen, ist keine gute Lösung.«

So sieht das ein Großteil der über 100 Gewerbetreibenden und Anwohner*innen, die am Mittwochabend zur zweiten Podiumsdiskussion von »Rettet die Friedrichstraße« ins Restaurant »Maximilians« gekommen sind. Essen, Bier und Trachten der Kellner*innen sind bayerisch. Im hinteren Teil des Lokals, das direkt am verkehrsberuhigten Teil der Friedrichstraße liegt, ist ein Podium aus Bierfässern mit karierten Tischdecken aufgebaut. Daran sitzen neben Remlinger und Neumann Stefan Meinhold für den Handelsverband Berlin-Brandenburg (HBB), Gerrit Buchhorn für den Deutschen Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) und Antje Osterburg von Bo-Backoffice, einem Planungsbüro, das in der Friedrichstraße geplante Veranstaltungen managt.

Moderiert wird die Veranstaltung, nicht ganz unparteiisch, von Frank Henkel, dem Vorsitzenden des Wirtschaftskreises Mitte und neuerdings auch Präsident des Berliner Boxverbandes. Besser bekannt ist Henkel freilich als ehemaliger CDU-Innensenator. Ein Mann von der Law-and-Order-Fraktion. »Ohne die Rolle des neutralen Moderators verlassen zu wollen – aber das mit der Charlottenstraße ist doch Irrsinn«, gibt Henkel eine Wortmeldung aus dem Publikum an Almut Neumann weiter. Die Charlottenstraße ist seit der Umwidmung eine Fahrradstraße. Immer wieder komme es dort zu gefährlichen Situationen, berichten Anwohnende. »Das passiert vor allem dadurch, dass Kfz-Fahrende die Verkehrsregeln missachten«, entgegnet Neumann.

Die Stadträtin muss an diesem Abend einiges einstecken. »Wir sehen das Projekt als gescheitert an. Man sollte sich ehrlich machen und es so, wie es ist, beenden«, präsentiert Meinhold vom HBB zum Einstieg die Meinung vieler Gewerbetreibenden. Neumann versucht es auf die positive Art: »Ich habe gerade draußen in einem Café gesessen und fand es einfach total schön.« Es gehe ja nicht nur um Verkehr, sondern auch um eine Belebung des öffentlichen Raumes, die Nutzung der Flächen durch Handel und Gastronomie, letztendlich um Vorteile für die Wirtschaft.

Das eigentliche Hauptproblem der Friedrichstraße ist viel älter als die Verkehrsberuhigung, betont Bezirksbürgermeisterin Remlinger. Die Einkaufsstraße hat mit Leerstand zu kämpfen, Gewerbetreibende wandern ab. Auch die Mall of Berlin, das Einkaufszentrum am nahe gelegenen Leipziger Platz, soll vieles kaputtgemacht haben. »Ich mache mir Sorgen um den Wirtschaftsstandort«, sagt Remlinger. »Wenn wir die Straße wieder für Autos öffnen, dann gehen Sie doch nicht davon aus, dass der Leerstand verschwindet und die Aufenthaltsqualität steigt.«

In Sachen Aufenthaltsqualität gebe es ja »unterschiedliche Wahrnehmungen«, sagt Gerrit Buchhorn bezogen auf Neumanns Café-Erlebnis. »Als ich hier ankam, kam ich mir vor wie in einem Western.« Mehrere Fahrradfahrer*innen hätten ihn beinahe umgefahren, berichtet der Dehoga-Vertreter unter Applaus. Wenn es nur nach ihr ginge, wären Fahrräder in der Friedrichstraße auch verboten, beteuert Stefanie Remlinger.

Unterschiedliche Meinungen gibt es ebenso zum gewünschten Erscheinungsbild der Straße. Neumann verspricht, dass die Fußgängerzone mit weiteren Möbeln sowie Pflanzen ausgestattet wird. Annett Greiner-Bäuerle, wie Frank Henkel Vorsitzende des Wirtschaftskreises Mitte, findet allerdings: »Die Friedrichstraße sieht traurig und leblos aus, und daran werden auch ein paar Blumenkübel nichts ändern.« Immer wieder betonen Redner*innen wie Gerrit Buchhorn oder die damalige Klägerin Anja Schröder, wie sehr ihnen die »historische Mitte« am Herzen liege. Was das mit Autos zu tun hat, ist unklar, doch womöglich bringen Blechlawinen das historische Erscheinungsbild weniger aus dem Gleichgewicht als pinke Stelen, bunte Sitzmöbel und »Aquarien«, wie ein Anwohner die zwischenzeitlich aufgestellten Schaukästen in der Friedrichstraße abfällig nennt.

Im Laufe des Abends wird zunehmend deutlich, dass im »Maximilians« ein gewisses Milieu von Anrainer*innen versammelt ist. Eines, das nicht nur Auto fährt und gehobene Restaurants für autofahrende Gäste betreibt, sondern auch möchte, dass die Zusammensetzung von Handel und Umgebung so bleibt, wie sie früher war. Das heißt: nicht zu viele Cafés für Tourist*innen und keine obdachlosen Menschen. Sie wisse von den nächsten zwei Läden, die verschwinden und durch Cafés ersetzt werden, erklärt eine Anwohnerin. Und ständig rufe sie die Polizei wegen Wohnungslosen, die dort nächtigen, weil es »zu ruhig« sei. Einmal sei sie gefragt worden, was sie gegen Obdachlose habe. Da habe sie zurückgefragt: »Was haben Sie gegen Steuerzahler?« Dafür erhält sie Beifall.

Immer wieder betonen Redner*innen, dass sie mit ihren Steuern die Gesellschaft finanzieren, stellen sich als Banker*innen, Kulturmanager*innen oder Hochschullehrer*innen vor, die zum Teil seit Jahrzehnten im Kiez leben oder arbeiten. Wie viel Geld denn in das Hin und Her bei der Friedrichstraße schon geflossen sei, wollen einige wissen. Remlinger weist das gegenüber »nd« als »polemische Frage« zurück. Viele Gäste fühlen sich von den Politiker*innen »verhöhnt« oder »verschaukelt«, wie dann noch öfter zu hören ist.

Andere Wortbeiträge haben mehr Substanz: So berichten einige Anwohner*innen, dass sich der Autoverkehr in die parallel zur Friedrichstraße verlaufende Markgrafenstraße sowie in Seitenstraßen verlagere. Gerade da würden aber Familien leben. Viel geeigneter zum Sitzen und Flanieren sei außerdem der Gendarmenmarkt. »Wir haben hier einen der schönsten Plätze Europas, und da leiten wir jetzt den Verkehr entlang«, ärgert sich Annett Greiner-Bäuerle.

Für eine Verkehrsberuhigung auch am Gendarmenmarkt zeigt sich Stadträtin Almut Neumann offen. Allerdings werde der Platz noch bis 2024 umgebaut und stehe vorerst nicht als Aufenthaltsort zur Verfügung. Auch die Friedrichstraße sei noch nicht im finalen baulichen Zustand und solle mit Beteiligung der Anrainer*innen umgestaltet werden. In der Vergangenheit habe es bereits zahlreiche Beteiligungsformate gegeben, erklären Neumann und Remlinger, auch wenn viele der Anwesenden das vehement abstreiten. »Die Kommunikation ist nicht so gelaufen, wie sie sollte«, sagt Remlinger später zu »nd«. Wegen der Corona-Pandemie lief eine Marketingkampagne nicht wie geplant. Aber es gebe auch viele Leute, die das aktuelle Konzept gut fänden. »Die sind nur sehr still.«

Antje Osterburg von Bo-Backoffice erzählt von vier Arbeitstreffen mit Anrainer*innen, aus denen Pläne für verschiedene Veranstaltungen hervorgegangen sind, mit denen die Fußgängerzone im Sommer belebt werden soll: eine Beauty Night der Galeries Lafayette, eine Tango-Bühne zur Fête de la Musique, Filmnächte mit dem Institut Français, ein CSD-Warm-up und ein Streetfood-Festival. Im Publikum wird es nun unruhig. »Wer macht das?«, »Was bringt das?«, »Das ist doch nicht nachhaltig«, wird dazwischengerufen.

Klar ist: Unter den Veranstalter*innen sind kaum Anrainer*innen der Friedrichstraße, wie Stefanie Remlinger zugibt. Sie hofft aber, dass die Gewerbetreibenden die Formate nach und nach für sich entdecken. »Konsumverhalten hat sich verändert. Man braucht mehr Events, um die Leute anzulocken«, sagt sie. Die vielen Boutiquen in der Friedrichstraße könnten ja beispielsweise an der Fashion Week teilnehmen.

Den Vorschlag des CDU-Abgeordneten Lucas Schaal, der bei der Wiederholungswahl den Wahlkreis rund um die Friedrichstraße direkt gewonnen hat, die Straße »erst mal wieder auf Normalnull zu stellen« – also ohne Verkehrsberuhigung – »und dann über die Zukunft zu reden«, weist Stadträtin Neumann dann auch zurück. Sie wolle Osterburg und den Veranstalter*innen erst einmal eine Chance geben.

Für die längerfristige Planung habe sie bereits mit der neuen Verkehrssenatorin Manja Schreiner Kontakt aufgenommen. Bezirk und Senat müssten da an einem Strang ziehen. Inwiefern das auf Gegenseitigkeit beruht, bleibt abzuwarten. Im Februar hatte Schreiner sich gegenüber TV Berlin für den Individualverkehr ausgesprochen und über die grüne Verkehrspolitik gesagt: »Die Grünen haben eine Bilanz, die ist wirklich gruselig.« Zudem steht im Koalitionsvertrag des neuen schwarz-roten Senats, dass das Erscheinungsbild der Friedrichstraße »nicht akzeptabel« sei. Das stimme ihn zuversichtlich, erklärt Gerrit Buchhorn vom Dehoga.

Remlinger sagt zu »nd«, sie sei »etwas nervös«, was das erste Zusammentreffen mit der neuen Verkehrsverwaltung betrifft. Ihr sei klar, dass die Friedrichstraße so nicht bleiben könne, aber sie fühle sich ermutigt, da es nun immerhin Gespräche zwischen der Politik und den Anrainer*innen gebe.

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