Migrationspolitik in Niger: Mission erfüllt

Neue Studie belegt die tödlichen Auswirkungen der europäischen Migrationspolitik in Niger

Verantwortlich für das Sterben im Mittelmeer ist die Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union, die verlangt, dass Asylanträge nur in einem ihrer 27 Mitgliedstaaten gestellt werden können. Auch weitab der Festung Europa verlieren jedoch Menschen deshalb ihr Leben. Diesen Zusammenhang belegt eine am Montag veröffentlichte Studie der Organisation Border Forensics mit dem Titel »Mission erfüllt?«. Ein 2015 auf Druck der EU in Niger verabschiedetes Gesetz gegen den »illegalen Handel mit Migranten« sorgt demnach dafür, dass immer mehr Menschen auf riskantere Fluchtrouten ausweichen müssen und deshalb in der Sahara verdursten. Die Regierung des Niger und ihre internationalen Partner stellen dies jedoch positiv dar und haben zur Bekämpfung irregulärer Migration das Narrativ einer »erfüllten Mission« entwickelt, kritisiert Border Forensics.

Die in Genf und Berlin ansässige Organisation untersucht und dokumentiert die staatliche Gewalt gegen Geflüchtete und Migranten an verschiedenen Grenzen. Die Ermittler und Analysten nutzen unter anderem Technologien der sogenannten Fernerkundung wie etwa Satelliten- und Wetterdaten sowie Informationen aus öffentlichen Quellen. Daraus generiert Border Forensics Berichte, Karten, Videorekonstruktionen und andere Visualisierungen. Die Studie zu Niger ist die dritte Ausarbeitung der jungen Organisation. Frühere Studien in 2022 widmeten sich der Komplizenschaft von Frontex mit der libyschen Küstenwache sowie der Rekonstruktion des Todes eines Flüchtlings in den französischen Alpen.

Das in Niger vom Parlament beschlossene Gesetz »2015-036« drängt Migrationsdienste in den Untergrund. Hierzu gehören Transportdienstleister, Anbieter von Unterkünften oder Vermittler. Bis zum Erlass des Gesetzes waren ihre Tätigkeiten in dem Land, das seit jeher Migration gewöhnt ist, legal. Kriminalisiert wird seitdem nicht nur die Unterstützung beim irregulären Grenzübertritt, sondern auch bei der Durchreise durch das Land. Die Regierung von Niger behindert mit dem Gesetz zudem die Freizügigkeit, die das Land als Teilnehmer der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) eigentlich garantieren muss.

Durch seine zentrale Lage ist der Niger zum Korridor für Geflüchtete aus Subsahara-Staaten wie dem Sudan, aber auch Nigeria oder Burkina Faso geworden. Die Fluchtrouten führen sämtlich durch die Sahara. Die Studie von Border Forensics betrachtet drei Standorte des Abschnitts der Strecke zwischen der am Rand der Wüste gelegenen Hauptstadt Agadez und der libyschen Stadt Sabha. Dort liegen die Stadt Séguédine, der militärische Außenposten Madama und der Kontrollpunkt Toummo an der nigrischen und libyschen Grenze.

Wie viele Menschen dort tatsächlich verdursten, ist weitgehend unbekannt. Zahlen liefert die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit ihrem Vermisste-Migranten-Projekt, das bereits einen deutlichen Anstieg seit dem Erlass des Gesetzes »2015-036« feststellt. Demnach sind 2015 noch 56 Menschen in der Wüste gestorben oder werden dort vermisst, zwei Jahre später waren es bereits 433. Insgesamt zählt die IOM seit 2014 insgesamt 1092 Migranten, die bei dem Versuch, die Wüste in Niger zu durchqueren ums Leben kamen oder verschwanden. Für die gesamte Sahara soll diese Zahl bei 1329 liegen – mit einer vermutlich deutlich höheren Dunkelziffer.

Die Routen der Geflüchteten und Migranten haben sich seit der Umsetzung des Gesetzes »2015-036« im Jahr 2016 drastisch verändert, wie die Studie von Border Forensics mithilfe von Satellitendaten nachweist. Dazu haben die Autoren hochauflösende Bilder aus offenen Quellen verarbeitet, darunter Karten des Microsoft-Dienstes Bing und von Google Earth, außerdem Satelliten- und Luftbilder der Firma ESRI und in Fällen, in denen die Analysen eine höhere Auflösung benötigten, auch von kommerziellen Anbietern. So ergibt sich laut Border Forensics »ein wiederkehrendes Muster, das auf einen klaren Zusammenhang zwischen verstärkten Grenzkontrollen und der Aufsplitterung der Migrationswege hinweist«.

Die nigrische Regierung sowie EU-Agenturen wie Frontex machen Transportfahrer, die gemäß dem neuen Gesetz als »Menschenschmuggler« gelten, für die Zunahme der Todesfälle und des Verschwindens verantwortlich. Ein solcher Zusammenhang existiert zwar, jedoch steckt auch dahinter die Politik der Migrationsabwehr. Das Gesetz »2015-036« zwingt die Fahrer in entlegenere Gebiete der Wüste und erhöht das Risiko, wenn ihr Pick-Up oder Lastwagen dort eine Panne hat. Weil die Fahrzeuglenker nicht bestraft werden wollen, fliehen sie in vielen Fällen vom Ort des Geschehens um einer Festnahme zu entgehen. Für die Passagiere sinken die Chancen, in der Wüste an Wasser zu gelangen, auf diese Weise beträchtlich. Auch dies stellt Border Forensics in ihrer Studie dar: Durch wiederkehrende Ereignisse wie Fahrzeugpannen oder Wassermangel nehmen die Überlebenschancen der Passagiere stark ab.

Das Risiko der Dehydrierung will Border Forensics in der Studie mess- und damit vergleichbar machen. In einer »Kosten-Distanz-Analyse« werden Faktoren wie Windgeschwindigkeit, Beschaffenheit der Landoberfläche, Vegetation, Sonneneinstrahlung und Temperatur einberechnet um abzuschätzen, wie viel Trinkwasser eine Person benötigt. Muss diese Person wegen Wassermangels durch ein Problem in der Wüste zu einer Hauptstraße zurücklaufen, um eine Wasserquelle oder einen Ort menschlicher Aktivität zu erreichen, trocknet sie weiter aus. Auch diesen Schweißverlust versucht Border Forensics zu messen und den »Punkt der tödlichen Dehydrierung« zu ermitteln.

Border Forensics fordert mehr Anstrengungen zur Verhinderung der »menschlichen Kosten der Grenzkontrollen«. Verantwortlich dafür sind laut der Organisation unter anderem Italien und Dänemark an der Ausarbeitung und Umsetzung des Gesetzes »2015-036« beteiligt waren. »Alle Akteure – ob aus Niger, Europa, den UN-Organisationen oder anderen -, die an der Ausarbeitung und Umsetzung des Gesetzes beteiligt waren, sollten für den vermehrten Tod und das Leiden von Migranten, das es verursacht hat, zur Rechenschaft gezogen werden«, sagt Rhoumour Ahmet Tchilouta, einer der leitenden Ermittler von Border Forensics bei diesem Projekt. Die EU, ihre Agenturen und Mitgliedsstaaten sollten alle Maßnahmen und Programme beenden, die zur Externalisierung der Grenzen beitragen, heißt es in einer Pressemitteilung weiter.

Danach sieht es allerdings nicht aus, im Gegenteil. Durch den Rückzug aus Mali wird der Niger als neuer Stützpunkt von europäischem Militär immer wichtiger, die Truppen werden dabei auch im Grenzgebiet eingesetzt. Vor einem Jahr hat die EU mit Niger außerdem eine »Partnerschaft zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität« vereinbart. Sie soll Tote in der Wüste verhindern und das »Geschäftsmodell krimineller Netzwerke« durchkreuzen, heißt es in einer Pressemitteilung der EU-Kommission. Unterstützung kommt auch von Frontex, die mit der in Niger gestarteten EU-Mission zur Beratung und Ausbildung der nigrischen Sicherheitsbehörden eine Arbeitsvereinbarung geschlossen hat. Darin will Frontex weitere nigrische Behörden in die Kontrolle der Grenzen einbinden. Außerdem erhalten die Beteiligten Zugang zu Daten des Grenzüberwachungssystems Eurosur, das weitgehend auf der Satellitenaufklärung beruht.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.