- Politik
- Verfassungsprozess in Chile
Chiles zweiter Anlauf missglückt
Extreme Rechte übernimmt den verfassungsgebenden Prozess
»Heute ist der erste Tag für eine bessere Zukunft unseres Landes«, sagt der ehemalige rechtsextreme Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast unter tosendem Applaus. Seine Repulikanische Partei, die Republicanos, erhielten am Wahlsonntag zum chilenischen Verfassungsrat gut 35 Prozent der Stimmen und 22 von 51 Sitzen. Das ist ein Erdrutschsieg der extremen Rechten, die im Strom der italienischen Faschistin Giorgia Meloni und des rechtsextremen Jair Bolsonaro schwimmen.
Am Wahlsonntag bildeten sich gewohnheitsgemäß lange Schlangen vor den Wahllokalen. Bei Wahlpflicht gingen etwa 12,5 Millionen Menschen an die Urne – knapp zwei Millionen blieben ihr trotz angedrohter Geldstrafen fern. Der Tag war geprägt von Unklarheit. Viele gaben noch vor dem Wahllokal an, sie wüssten nicht, wen sie wählen würden. Andere sagten beim Herausgehen, sie hätten wahllos Striche auf den Stimmzettel gezeichnet.
Das Resultat zeichnet ein neues politisches Bild, in dem die rechten Parteien eine deutliche Mehrheit der Stimmen holten und mit 33 Sitzen eine Zweidrittelmehrheit im Verfassungsrat besitzen. Auf linker Seite zog einzig die Regierungskoalition, Unidad para Chile, bestehend aus der Sozialistischen Partei, der Kommunistischen Partei (KP) und dem Frente Amplio, in den Verfassungsrat. Sie wird mit 17 Sitzen keine Sperrminorität erreichen. Hinzu kommt der Mapuche Alihuén Antileo Navarrete, der als indigener Kandidat die Mindestzahl an Stimmen erreichte, um einen Sonderplatz im Rat zu bekommen.
Ohne Sitze bleiben derweil die rechtspopulistische Partido de la Gente sowie die Liste aus der Christdemokratischen Partei und der Partido por la Democracia. 22 Prozent der Wähler*innen gaben ungültige Stimmzettel ab. Vor allem linksrevolutionäre Kreise hatten dazu aufgerufen, der Ablehnung des von oben geleiteten verfassungsgebenden Prozesses Ausdruck zu verleihen.
Das kommunistische Basismitglied Aldo Alvarado zeigt sich derweil enttäuscht: »Wir wussten, dass die Rechte gewinnen wird, aber nicht mit so einer krassen Mehrheit«, sagte er »nd«. Trotz des bescheidenen Erfolgs der Regierungskoalition, nicht unter die 20-Prozentmarke zu fallen, bedeutet das Ergebnis einen herben Rückschlag für die linken Parteien. Der eigentlich von linker Seite angestoßene verfassungsgebende Prozess wird von rechter Seite fortgeführt.
Am gleichen Abend trat der linke Präsident, Gabriel Boric, vor die Kameras. Er gratulierte nüchtern den Wahlsieger*innen und lud sie ein, »nicht den gleichen Fehler zu machen wie wir. In diesem Prozess darf es nicht um Vendettas gehen, sondern um Chile und seine Leute.« Die neue Verfassung müsse im Dialog mit allen politischen Kräften geschrieben werden.
Die Republicanos lehnten es Ende 2022 ab, einen neuen verfassungsgebenden Prozess in Chile einzuleiten und kündigten an, alles daran zu setzen, um »ihn von innen zu sprengen«. Nach der Wahl sagte das gewählte Ratsmitglied Luis Silva: »Wir werden uns an der heutigen Verfassung orientieren, denn sie ist gut und das Wahlergebnis bestätigt das.«
Bei dem verfassungsgebenden Prozess muss sich der Rat allerdings an einem Entwurf orientieren, der bis Ende Mai von einer sogenannten Expert*innenkommission fertiggeschrieben wird. Die Mitglieder der Kommission wurden im Januar vom Parlament bestimmt. Einen zusätzlichen Rahmen liefern zwölf vorbestimmte Grundpfeiler, deren Einhaltung von einem Schiedsgericht kontrolliert wird. Die Grundpfeiler garantieren unter anderem das Fortbestehen der Eigentumsrechte, der Streitkräfte und der Polizei. Chile wird darin als sozialer und demokratischer Rechtsstaat definiert, der die indigene Bevölkerung anerkennt.
Die rechtsextremen Republicanos übernehmen mit ihrem Wahlsieg die Führungsrolle unter den rechten Parteien. Die drei traditionellen rechten Parteien liegen mit insgesamt 21 Prozent deutlich abgeschlagen hinter den 35 Prozent der Republicanos. Der Politikwissenschaftler Claudio Fuentes spricht gegenüber einem Lokalradio von einem vorgezogenen Rennen um die Präsidentschaftswahl von 2025. Mit diesem Ergebnis muss die Partei erstmals Verantwortung übernehmen und könnte womöglich daran scheitern.
Für den Kommunisten Alvarado geht es nun darum, gemeinsam gegen die rechte Bedrohung zu kämpfen. »Wir müssen uns vereinen, um das Schlimmste zu verhindern«, meint er abschließend. Am 17. Dezember wird die chilenische Bevölkerung über den zweiten Verfassungsentwurf abstimmen. Ob Alvarado ihn annehmen wird, will und kann er noch nicht sagen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.