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Arbeitszeitverkürzung in Chile: 40 Stunden mit Abstrichen
Chiles Regierung verkürzt die Arbeitszeit per Gesetz. Die Gewerkschaften sind trotzdem unzufrieden
»Es ist wunderbar«, sagt Ana Ulloa, während sie eine Form aus dem Stoff schneidet. Seit drei Jahren arbeitet sie nur noch 40 Stunden in der Woche, von 7 Uhr morgens bis 15 Uhr am Nachmittag. Das bedeutet für sie mehr Freizeit und die Möglichkeit, ihren Sohn von der Schule abzuholen. »Das hat mein Leben verbessert«, meint Ulloa, und sie ist froh, dass ihre Arbeitsweise in Chile bald der Regelfall sein wird.
Das Plüschtierunternehmen, bei dem Ulloa arbeitet, hat vor drei Jahren die Arbeitszeit von den üblichen 45 Stunden auf 40 reduziert. Damals wurde im chilenischem Kongress noch über die 40-Stunden-Woche diskutiert. Seit dem 26. April ist diese Verkürzung nun Gesetz. Schrittweise soll die Arbeitszeit innerhalb von fünf Jahren in den Unternehmen reduziert werden.
Das Gesetz ist ein großer Erfolg für die Regierungskoalition um Staatspräsident Gabriel Boric und für die derzeitige Regierungssprecherin Camila Vallejo, die als Parlamentarierin für die Kommunistische Partei im Jahr 2017 die Gesetzesinitiative eingebracht hat. »Es ist ein Projekt für die Familie. Kinder brauchen mehr Zeit mit ihren Eltern«, sagte Vallejo gegenüber chilenischen Medien.
Doch gerade manche Gewerkschaften und linke Akteure zeigen sich alles andere als begeistert. Sie meinen, das Gesetz sei ausgehöhlt worden und führe zu einer Reihe von Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, die so nicht vorgesehen waren. Es zeige, wie schwach die Position der linken Regierung ist und wie weit sie Unternehmen und Rechten entgegenkommen muss, um scheinbare Erfolge zu erzielen. So ihre Sicht.
Jorge Hidalgo und Tamara Ruz setzen sich an den Tisch. Sie besitzen die kleinen Plüschtierfabrik, in der Ana Ulloa arbeitet. Auf die Anfänge ihres Unternehmens blicken sie gerne zurück: Ruz studierte im Jahr 2013 an der Universität und nähte im Nebenjob Plüschtiere. »In manchen Monaten habe ich über 1000 Euro verdient. Deswegen haben wir uns entschieden, uns dem Geschäft ganz zu widmen.«
Ihr Haus hat sich über Jahre hinweg in eine kleine Näherei verwandelt, bis sie vor zwei Jahren beschlossen, eine kleine Halle zu mieten. Hier steht nun die Fabrik Cotton Toys. Zwischenzeitlich hatten sie mehr als 30 Arbeiterinnen, nur Frauen, die Plüschtiere für Kinder und Unternehmen nähten. Mittlerweile mussten sie aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise ihr Personal auf zehn reduzieren.
Die Vorgeschichte des Paares ist wichtig, um die Situation der Belegschaft zu verstehen. Beide haben schon als Jugendliche gearbeitet, Hidalgo in Fabriken, Ruz auf dem Feld. »Die Arbeit bei der Traubenernte war sehr hart«, erinnert sie sich. »Man schwitzt unaufhörlich und bekommt Schwefel ins Gesicht, das als Pestizid verwendet wird.« Aus ihrer eigenen Erfahrung heraus war für beide klar, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten gute Arbeitgeber*innen sein wollen.
Daher beschlossen sie im Jahr 2020, die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu verkürzen. »Immer wieder hatten Näherinnen zuvor gefragt, ob sie früher nach Hause gehen könnten, um sich um die Kinder zu kümmern«, erzählt Hidalgo. »Deswegen lag eine Reduzierung der Arbeitszeit auf der Hand.« Ruz ergänzt: »Im Gegenzug meinten die Näherinnen, sie würden über den Tag die gleiche Menge produzieren.« Das Ergebnis stellt beide teilweise zufrieden. »Die Erhöhung der Produktivität ist so nicht eingetreten«, meint Ruz. Also blieb ihnen nichts anderes übrig, die Arbeitszeitverkürzung auch als Gehaltserhöhung anzusehen, obwohl sie die gar nicht umsetzen konnten. Wirtschaftlich seien Sie nämlich nicht in der Lage, mehr als den Mindestlohn zu zahlen. Aber am Wohl der Beschäftigten liege ihnen auch viel, bekräftigt Ruz und ist sich sicher: »Unsere Arbeiterinnen sind jetzt glücklicher.«
Die Geschichte der Plüschtierfabrik ist ein Sonderfall in der chilenischen Arbeitswelt. Dem sind sich auch Ruz und Hidalgo bewusst. Hidalgo erinnert sich an seine Zeit, als er bei dem Konzern Elektrolux arbeitete. »Du wusstest nie, wann du nach Hause kommst«, erzählt er. »Wer keine Überstunden machte, dem wurde mit einer Entlassung gedroht.«
Das sei Normalität in Chile, erzählt der Wirtschaftswissenschaftler Gonzalo Durán. Er warnt vor den möglichen Auswirkungen des Gesetzes. Es sei voreilig verabschiedet worden, meint er. »Der Karren wurde vor die Ochsen gespannt«, zitiert er ein chilenisches Sprichwort. Zuerst hätte die Regierung die Gewerkschaften stärken müssen und danach ein solches Gesetz voranbringen sollen. Denn mit dem Gesetz gäbe es eine Reihe an Maßnahmen zur Arbeitszeitflexibilisierung, die das Leben der Arbeiter*innen beeinträchtigen könnte.
Durán arbeitet am Lehrstuhl für Soziale Arbeit an der Universidad de Chile und ist Mitglied der Fundación Sol, einem linken Think-Tank für Arbeitsrecht und Wirtschaft, der eng mit Gewerkschaften zusammenarbeitet. In seinem Büro hängen Statistiken zur Arbeitszeit und Gesetzesauszüge an der Wand. Durán redet ein paar Worte auf Deutsch und fährt dann auf Spanisch fort. Er selber habe in Deutschland promoviert und verfolge die Kämpfe um die Reduzierung der Arbeitszeit genau. »Über eine 28-Stunden-Woche zu sprechen, wie es die IG Metall macht, ist hier fast unmöglich.« Und noch etwas Weiteres ist jenseits der Realität: dass Gewerkschaften über die Wochenarbeitszeit in Produktionssparten verhandeln.
Seit der Arbeitsmarktreform der Militärdiktatur im Jahr 1979 sind Gesamtarbeitsverträge in Chile verboten. Die Gewerkschaften dürfen lediglich auf der Ebene von Betrieben verhandeln, und genau hier sind sie zersplittert und schwach. »In Chile verhandeln gerade einmal 13 Prozent der Arbeiter*innen kollektiv mit den Unternehmen über ihre Arbeitsbedingungen«, erzählt Durán. »Manche Unternehmen haben über 100 verschiedene Gewerkschaften«. Viele davon seien vom Arbeitgeber gegründet worden, um kämpferische Gewerkschaften zu schwächen.
Wegen dieser zerfahrenen Situation befürchtet Durán negative Auswirkungen für die Arbeiter*innen. Laut dem neuen Gesetz wird die Stundenzahl auf den Monat gerechnet. »Das bedeutet, die Firma kann dich eine Woche lang 28 Stunden arbeiten lassen und die nächste Woche 52«. Überstunden könnten zudem in Ferien abgewandelt werden. Manche dieser Maßnahmen sind zwar nur möglich, wenn mehr als 30 Prozent der Belegschaft gewerkschaftlich organisiert sind und die Gewerkschaften ihr zustimmen. Allerdings, gibt Durán zu bedenken, könnten Unternehmen die Bestimmungen mit unternehmensnahen Gewerkschaften recht einfach umgehen.
All dies wird durch den geringen Mindestlohn noch verschlechtert. Die Lebenshaltungskosten sind fast so hoch wie in Deutschland, aber der Mindestlohn beträgt gerade einmal 460 Euro. Etwa die Hälfte der Menschen verdienen weniger als 550 Euro. »Wenn eine Person so wenig Geld verdient und eine Woche nur 28 Stunden arbeitet, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie sich einen zweiten Job sucht«, prophezeit Durán. »Das Versprechen, mehr Zeit mit der Familie zu haben, tritt dann nicht ein.«
Die Regierung weist aber jegliche Kritik an dem Gesetz von sich. Die kommunistische Arbeitsministerin Jeannette Jara warb für das Gesetz. Es werde immer unterschiedliche Meinungen geben, erklärte sie. Aber niemand könne behaupten, »dass eine 40-Stunden-Woche nicht zu einer höheren Lebensqualität führen wird«.
Die umstrittenen Maßnahmen zur Flexibilität der Arbeitszeit wurden erst in letzter Instanz im Senat in das Gesetzesprojekt eingefügt. Da die Regierung in dieser zweiten Parlamentskammer nur 18 von 50 Sitzen innehat, waren die Ergänzungen Teil der Verhandlungen, um das Gesetz verabschieden zu können. Rechte Politiker*innen und Unternehmen feierten die Arbeitszeitflexibilisierung als Maßnahme, die die rechte Vorgängerregierung so nicht durchgebracht hätte.
Einst war das Gesetz ein strategischer Coup der linken Opposition, die damit die Handlungsunfähigkeit der rechten Vorgängerregierung von Sebastián Piñera aufzeigte. Denn trotz Mehrheit im Parlament sah sich die Regierung gezwungen, die von der Kommunistischen Partei eingebrachte Gesetzesinitiative anzunehmen. Eine Gegeninitiative, die eine 41-Stunden-Woche einführen wollte, scheiterte kläglich.
Die Initiative drohte schon in Vergessenheit zu geraten und wurde erst vor wenigen Monaten wieder weiter verfolgt. Ein ungünstiger Zeitpunkt dafür. Denn derzeit sieht sich die linke Regierung von der rechten Opposition vor sich hergetrieben. Der gescheiterte verfassungsgebende Prozess und eine von den Medien geförderte öffentliche Panik zum Thema Kriminalität haben ihr Aufwind gegeben. Das Parlament verabschiedet Gesetze, die der Polizei mehr Macht geben, und die Regierung setzt medienwirksam das Militär zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit ein.
Gleichzeitig lehnte das Parlament im März überraschend eine große Steuerreform ab. Das Gesetzespaket galt als Kernelement des Regierungsprogramms und sollte soziale Reformen finanzieren. Die 40-Stunden-Woche dient nun dazu, eine positive Stimmung zu schaffen und vor allem die linken Wähler*innen zufrieden zu stimmen.
Beim Blick in die Zukunft ist der Wirtschaftswissenschaftler Durán zwiegespalten. Das Gesetz der Arbeitszeitverkürzung gehe in die richtige Richtung. Gerade in Chile würden die Unternehmen überproportional an der Arbeit der Menschen profitieren. »Gemessen an der Arbeitszeit braucht es durchschnittlich drei Arbeitsstunden am Tag, um Löhne auszuzahlen, der Rest des Arbeitstages geht dem Unternehmen zugute.«
Die Einführung der kürzeren Arbeitszeit dauert dem Wirtschaftswissenschaftler entschieden zu lange. »Von dem Moment, an dem das Gesetz eingebracht wurde, bis zur vollständigen Umsetzung werden über zehn Jahre vergehen«, kritisiert er. Immerhin hat die Regierung angekündigt, weitere Gesetze beschließen zu wollen, um die Gewerkschaften zu stärken und so eventuell manche Probleme bei der Umsetzung beheben zu können. Starke Gewerkschaften könnten helfen, den Bedürfnissen der Arbeiter*innen mehr Gewicht zu geben, hofft er.
In der Plüschtierfabrik gibt es keine Gewerkschaft. »Die braucht es doch nur, wenn die Kommunikation zwischen den Besitzern und Arbeiterinnen so nicht funktioniert«, meint Hidalgo. Und bei ihnen funktioniere sie ja zum Glück. Sie denken derweil darüber nach, weitere Maßnahmen des Gesetzes umzusetzen. »Wir wollen die Vier-Tage-Woche ausprobieren«, erzählt Hidalgo. Dies würde Zehn-Stunden-Schichten voraussetzen, hätte aber den Vorteil, dass die Arbeiterinnen ein längeres Wochenende hätten. Wie allerdings die Arbeit und der Familienalltag unter einen Hut gebracht werden können, ist völlig unklar.
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