Streikkonferenz in Bochum: Wachsende Gewerkschaftsmacht

Über 1500 Teilnehmer diskutierten in Bochum über neue Strukturen und Kampfformen

Im vollen Audimax der Ruhr-Uni wurde über gewerkschaftliche Perspektiven debattiert.
Im vollen Audimax der Ruhr-Uni wurde über gewerkschaftliche Perspektiven debattiert.

Das Audimax auf dem Campus der Bochumer Ruhr-Universität ist ein beeindruckendes Gebäude. Der Betonklotz bietet Platz für 1750 Besucher*innen, und diesen hätte es am Wochenende auch fast gebraucht. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte zur fünften Konferenz gewerkschaftliche Erneuerung eingeladen und 1550 Menschen waren der Einladung gefolgt.

Richtig voll ist es am Samstagmorgen im Audimax, und immer wieder brandet Jubel auf, als Beschäftigte von Lieferando, Galeria Karstadt Kaufhof und den nordrhein-westfälischen Unikliniken von ihren Arbeitskämpfen berichten. Es sind viele junge Menschen zu der Konferenz gekommen, Gewerkschaften sind für sie in konkreten Auseinandersetzungen interessant geworden. Sei es bei Lieferdiensten oder in der Krankenpflege. In den fast 60 Veranstaltungen und auf dem Campus der Ruhr-Universität treffen immer wieder Aktive aus den unterschiedlichsten Bereichen aufeinander, tauschen sich aus, sprechen darüber, was in der einen Branche mit der anderen vergleichbar und was ganz anders ist. Was hat bei euch funktioniert? Wie müssten wir es machen, damit es bei uns auch klappt? Das sind Fragen, die viele hier beschäftigen.

Zum fünften Mal veranstaltet die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine Konferenz zur gewerkschaftlichen Erneuerung. Das diesjährige Motto »Gemeinsam in die Offensive« markiert auch einen Wendepunkt im Vergleich zu den Anfangstagen der Konferenz vor zehn Jahren. Damals sei, geprägt von der »neoliberalen Politik«, in Frage gestellt worden, ob Gewerkschaften überhaupt noch eine Existenzberechtigung hätten. »Die Gewerkschaften waren in der Defensive«, erklärt Fanny Zeise, Referentin für gewerkschaftliche Erneuerung bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Zur Konferenz 2013 in Stuttgart kamen 300 Menschen, 2019 bei der bislang letzten in Braunschweig waren es über 800. In den Gewerkschaften habe es vor zehn Jahren Leute gegeben, die neue Sachen ausprobiert hätten und sich zum Beispiel am Organizing orientiert hätten. »Gleichzeitig haben sich im Wissenschaftsbereich Klaus Dörre von der Uni Jena und einige jüngere Wissenschaftler*innen mit Fragen zur Revitalisierung von Gewerkschaften beschäftigt«, erzählt Zeise. Es sei darum gegangen, welche Strategie Gewerkschaften in schwierigen Zeiten entwickeln könnten.

Ergebnisse dieser Prozesse waren in letzter Zeit zahlreich zu sehen. Die Zusammenarbeit von Fridays for Future und Verdi für bessere Arbeitsbedingungen im ÖPNV und eine Mobilitätswende oder die Streiks der Krankenhausbewegung. Es wird mehr auf gesellschaftliche Kontexte und stärker auf Beteiligungsmöglichkeiten geachtet. Für Fanny Zeise ist das ein Ergebnis gewerkschaftlicher Erneuerung und gleichzeitig Anstoß für weitere Erneuerungsprozesse. »Insgesamt ist die Gewerkschaftsbewegung offensiver geworden, sie stellt sich stärker die Frage, wie man mit der aktuellen Situation umgeht, besser werden und gewinnen lernen kann«, ist sich Fanny Zeise im Gespräch mit »nd« sicher.

Läuft jetzt alles gut bei den Gewerkschaften? Davon kann keine Rede sein. Bei einer Gesprächsrunde zur »Revitalisierung gewerkschaftlicher Gremien« berichtete Max van Kaldenkerken, der bei Verdi in einem Projekt zur Zukunft der Mitgliederentwicklung arbeitet, von den aktuellen Schwierigkeiten. »Es fehlt uns in keiner Branche an Leuchttürmen.«, erzählt er und nennt Beispiele, wo Transparenz und Beteiligungsorientierung in Tarifauseinandersetzungen gut funktioniert haben. »Es gelingt uns aber nicht, das in der gesamten Organisation umzusetzen«, gibt er zu. Es gebe zu viele »Beharrungskräfte«, und zu viele Ressourcen würden in Strukturen gesteckt, die überholt seien. Verdi sei überaltert und viele der älteren Kolleg*innen, die Kaldenkerken als aufrechte Gewerkschafter*innen beschreibt, hätten eine Abwehrhaltung gegen neue Organisationsformen eingenommen. Diese hätten eine gewerkschaftliche »Stellvertreterpolitik« verinnerlicht. Um Erneuerungsprozesse voranzutreiben, müsse man sich kleinteilig organisieren und letztlich auch die »Machtfrage in Gremien stellen«, appelliert Max van Kaldenkerken.

Dass es für Erneuerungsprozesse und einen radikalen Kurs auch in der Gewerkschaftsführung Verbündete gibt, bewies Hans-Jürgen Urban bei einer umjubelten Rede im Audimax. Aktuell gebe es eine »historisch einmalige Situation«, Umbrüche wie Globalisierung, Digitalisierung und Dekarbonisierung träfen auf Schocks wie die Finanzkrise, Corona und den Ukraine-Krieg. Es seien »Zeiten des Kampfs um Hegemonie«, und in diesen müsse die gesellschaftliche Linke aus ihrem »desolaten Zustand« herauskommen und dürfe die Deutungshoheit nicht Rechten überlassen. Für Gewerkschaften bedeute das, »für eine ökologisch-nachhaltige Gesellschaft« zu streiten, so Urban. Die Gesellschaft müsse sich die Entscheidungsmacht darüber zurückholen, wie sie knapper werdende Ressourcen verteilen will. Dafür sei es wichtig, »wirtschaftsdemokratische Strukturen« aufzubauen. Wo öffentliches Geld fließe, müsse auch öffentliches Eigentum entstehen, fordert der Metallgewerkschafter. Bisherige Vorstellungen von Mitbestimmung reichten »nicht für das aus, was wir in Zukunft brauchen«. Urban ist sich sicher, dass Konflikte in Zukunft eine »neue Schärfe« annehmen werden. Weltweit verflochtene Produktionsprozesse ließen nur einen Schluss zu: »Sozialistischer Internationalismus« müsse eine neue Relevanz gewinnen.

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