- Wirtschaft und Umwelt
- Geschlechtersensible Medizin
Frauengesundheit nachgeordnet
In Deutschland gibt es noch jede Menge Defizite in der geschlechtsspezifischen Medizin
Frauenkrankheiten werden seltener entdeckt, weniger gut erforscht und die Patientinnen schlechter versorgt. Als Beispiele können genannt werden das Prämenstruelle Syndrom, die Endometriose (das sind krankhafte Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut im Bauchraum) oder das Lipödem, eine Störung der Fettverteilung. Es gibt also nicht nur unterschiedliche Symptome bei den Geschlechtern, obwohl sie eine gleiche Diagnose haben, etwa einen Herzinfarkt. Um diese und weitere Defizite in der geschlechtsspezifischen Medizin ging es am Dienstag in Berlin bei einem Fachforum des Grünen Wirtschaftsdialogs.
Die Veranstaltung sollte offenbar den Blick von Unternehmen auf die nicht gedeckten gesundheitlichen Bedürfnisse der verschiedenen Geschlechter weiten. Zustandsbeschreibungen kamen dazu aus Politik, Medizin und Wissenschaft. Angesichts vieler Beispiele dafür, wie Frauengesundheit und auch die Bedürfnisse weiterer Geschlechter nicht bedacht werden, startete die Grünen-Bundestagsabgeordnete Saskia Weishaupt mit positiven Entwicklungen, zunächst mit einem Verweis nach Frankreich. Dort werden seit 2022 allen Frauen bis zum Alter von 25 Jahren ihre Verhütungsmittel erstattet. Eine generelle Kostenübernahme gibt es für Verhütungsmittel bis zum 18. Lebensjahr. Kondome fallen jedoch nicht unter diese Regel. In Deutschland hingegen sind verschreibungspflichtige Verhütungsmittel ab dem 18. Lebensjahr zuzahlungspflichtig, hier bleibt Verhütung also auch eine Kostenfrage.
Zudem hat Frankreich im vergangenen Jahr eine nationale Strategie gegen Endometriose gestartet. Auch in Deutschland wird aktuell die Erforschung der Krankheit mit staatlicher Förderung vorangetrieben: Die Grünen sorgten dafür, dass in den Bundeshaushalt für 2023 ein Betrag von fünf Millionen Euro eingestellt wurde und wollen, dass die Förderung 2024 noch einmal erhöht wird. Spanien punktet ebenfalls in Sachen Frauengesundheit: Das neue Abtreibungsgesetz, in diesem Februar verabschiedet, garantiert Schwangerschaftsabbrüche in öffentlichen Gesundheitszentren und senkt das Alter für eine Abtreibung ohne elterliche Zustimmung auf 16 Jahre. Die kostenlose Verteilung der »Pille danach« wird ebenfalls zugesichert.
Auch wenn die Ampel-Koalition die erste Bundesregierung ist, die sich Aufgaben zur Gendergesundheit in den Koalitionsvertrag geschrieben hat, gibt es in dem Feld einen enormen Nachholbedarf, der nicht in einer Legislatur zu bewältigen sein wird. Unter anderem ist Gendermedizin erst an einer deutschen Universität Pflichtfach im Medizinstudium. Die medizinische und pharmazeutische Setzung des männlichen Körpers als Norm wirkt zum Beispiel in den meisten klinischen Studien nach. In der medikamentösen Therapie führt das dann dazu, dass Frauen Medikamente überdosiert erhalten und mehr Nebenwirkungen erleiden.
Jedoch geht es nicht allein um die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Unter anderem Weishaupt sagt, dass bestimmte Themen der Frauengesundheit in männlich besetzten Entscheidungsgremien keine Berücksichtigung finden. Deshalb sei die Eins-zu-eins-Betreuung durch eine Hebamme während der Geburt noch nicht gesichert, und hebammengeleitete Kreißsäle werden noch nicht überall angeboten. In Nordrhein-Westfalen etwa gibt es bei 132 Geburtsabteilungen in Krankenhäusern erst 27 dieser Kreißsäle.
Erstaunliche Einblicke in die Gynäkologie gibt Mandy Mangler, Chefärztin in diesem Bereich in zwei Berliner Vivantes-Kliniken. Sie verweist auf die immer noch herrschende Männerüberzahl in Führungspositionen in der Geburtshilfe, obwohl von jenen, die den Beruf ausüben, schon 77 Prozent Frauen sind, einmal ganz abgesehen vom Geschlecht der Patientinnen. Eine mehr von Frauen ausgeübte Medizin könnte auch für Männer sicherer werden: Eine große Harvard-Studie wertete Eingriffe bei 104 000 Patienten aus, die von etwa 3300 Operierenden durchgeführt wurden. In den Fällen, in denen Frauen operierten, starben weniger Patienten, es gab eine geringere Mortalität in den ersten 30 Tagen nach dem Eingriff und weniger Neuaufnahmen ins Krankenhaus. Andersherum sind die Ergebnisse von Operationen bei Frauen schlechter, wenn diese von Männern durchgeführt wurden.
Die Perspektive der Frauen fehlt Mangler auch in Studien, die weiblichen Erkrankungen gewidmet sind, etwa wenn bei der Erforschung der Wirkungen einer Gebärmutterentfernung die Frauen selbst gar nicht gefragt werden. Eine nicht gendersensible Medizin blendet auch Gesundheitsbelastungen aus, die vor allem Männer betreffen. Dass letztere in Deutschland im Schnitt fast fünf Jahre früher als Frauen sterben, sei im internationalen Vergleich ein schlechter Wert, sagt die Psychologin Gertraud Stadler, die eine Professur für geschlechtersensible Präventionsforschung an der Charité innehat. In Sachen Verhaltensprävention würden Männer kaum erreicht. Vermutlich fehlt eine spezifische Ansprache. Dazu passt dann, dass etwa Übergewicht nicht nur die Fruchtbarkeit von Frauen, sondern auch die von Männern beeinträchtigt. Studien zu diesem Thema wiederum untersuchen aber nur Frauen. Aus Stadlers Sicht müssen hier systematisch Datenlücken geschlossen werden. Am Ende könnte die Gesundheit aller verbessert werden.
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