Medien im Ukraine-Krieg: Staatswohl geht vor Aufklärung

In der Ukraine herrscht Krieg und daran ist auch Deutschland beteiligt. Eine Medienanalyse

  • Renate Dillmann
  • Lesedauer: 15 Min.

Seit Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine arbeiten die deutschen Mainstream-Medien unermüdlich daran, die nötige moralische Unterstützung für die Regierungslinie zu erzeugen – mit Erfolg. Ohne es bislang mit großen und praktisch störenden Protesten zu tun zu bekommen, liefert Deutschland immer mehr und immer schwerere Waffen direkt in ein Kriegsgebiet und rüstet seine Bundeswehr mit viel Geld zur drittstärksten Armee der Welt auf. Kritische Einwände gelten allenfalls dem Zaudern des Kanzlers zu den »notwendigen« Waffenlieferungen in die Ukraine und der Frage, ob 100 Milliarden Euro für die »Zeitenwende« nicht viel zu knapp gerechnet seien. Pazifismus und die früher üblichen Bedenken gegen Aufrüstung und eine offen militärische Außenpolitik sind in der deutschen Öffentlichkeit mittlerweile völlig out.

Auch die durchaus harten finanziellen Folgen, etwa die massiv steigenden Preise im Einzelhandel im Zuge der deutschen Sanktions- und Verschuldungspolitik, die abhängig Beschäftigte hart treffen, werden von der Bevölkerung geschluckt. Die Gewerkschaften handeln zurzeit eine Reallohnsenkung nach der anderen aus. Die Medien haben maßgeblich zu dieser Haltung der deutschen Bevölkerung beigetragen. Werfen wir einen prüfenden Blick auf ihre Leistungen im vergangenen Jahr.

Zur Autorin

Renate Dillmann studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Gutenberg-Universität Mainz und promovierte dort zur Staatstheorie von Thomas Hobbes. Heute ist sie freiberufliche Journalistin und Dozentin für Sozialpolitik an der EVH Bochum, Autorin von »China – ein Lehrstück« (Buchmacherei 2021) und mit Arian Schiffer-Nasserie Co-Autorin von »Der soziale Staat« (VSA 2018).

Gründe werden zu Schuldfragen

Der vielleicht wichtigste Schritt in der Herstellung eines nationalen Konsens war die Durchsetzung des Narrativs von der Alleinschuld Russlands. Es verhält sich jedoch nicht ganz so einfach in einem Konflikt zwischen zwei oder sogar mehreren beteiligten Parteien; dies ist, wenn Kinder im Sandkasten streiten, sofort jedem klar: »Zum Streiten gehören immer zwei!« Die Medienprofis der deutschen Öffentlichkeit konnten sich für ihre Deutung allerdings erstens auf die anti-kommunistischen beziehungsweise heutzutage antirussischen Reflexe zumindest der westdeutschen Bevölkerung verlassen, die sie nur wachkitzeln mussten. Zweitens verwandelten sie die Frage nach den Gründen für den Krieg in der Ukraine in die nach den Schuldigen – auch das ist den meisten Zeitgenossen (leider) eine alltägliche Gewohnheit.

Und darauf hatten sie dann auch eine klare Antwort parat: Es wurde derjenige für verantwortlich erklärt, der den ersten Schuss in diesem Krieg abgegeben hatte. Und er sollte auch für alles verantwortlich sein – auch für das, was die westlichen Staaten ihm entgegensetzten. Um es konkret zu machen: Die heftig gestiegenen Energiepreise und die zweistellige Inflation sind dieser Logik nach weder Resultat der Sanktionen, die die deutsche Regierung gegen Russland in Gang gesetzt hat, noch der Staatsverschuldung, mit der der laufende Krieg und die Aufrüstung der Bundeswehr zur drittgrößten Armee der Welt ohne großes Federlesen finanziert werden. Verantwortlich dafür ist alleine Putin.

Moralisierende Sprachregelungen

Journalist*innen weisen hierzulande gerne darauf hin, wie schwer es die russischen Kolleg*innen hätten, denen die Verwendung bestimmter Worte vorgeschrieben werde. So ist etwa die Bezeichnung »Krieg« in Russland verboten und ihre Verwendung zieht strafrechtliche Konsequenzen nach sich. Umso bemerkenswerter ist angesichts dessen die freiwillige Uniformität der hiesigen Mainstream-Medien: Der russische Präsident Putin gilt als Aggressor. Er habe aus heiterem Himmel und ohne ersichtliche Gründe (mehr dazu später) einen »brutalen völkerrechtswidrigen Krieg« begonnen – wobei der Vorwurf vom »brutalen völkerrechtswidrigen Krieg« über Monate hinweg täglich wiederholt wurde, damit er sich auch wirklich in allen Köpfen festsetzte.

Eine Erläuterung dessen, was ein völkerrechtswidriger Krieg ist, hielten die deutschen Medien mithin für überflüssig. Dass es sich dabei um Kriege ohne UN-Mandat handelt – nur nebenbei gesagt: an Kriegen mit Mandat ist demnach gar nichts auszusetzen! – und dass dementsprechend die westlichen Kriege der vergangenen 30 Jahre in Jugoslawien, Afghanistan und im Irak allesamt völkerrechtswidrig waren, fiel vornehm unter den Tisch. Gleiches gilt für die Tatsache, dass »Brutalität« ein allgemeines Kennzeichen des Kriegführens ist und die westlichen Kriege nicht minder brutal waren. Für den Afghanistan- und den Irak-Krieg etwa verzeichnete das Bundeswehr-Journal bereits 2015 sage und schreibe 1,3 Millionen Tote.

In Moskau sitzt in der Darstellung fast aller deutschen Nachrichten übrigens gar keine Regierung, sondern ein »Regime«; Wladimir Putin firmiert nicht als Präsident, sondern als »Machthaber«, im Jargon von »Bild« auch »Kreml-Tyrann« genannt, obwohl er gewählt wurde – auch wenn hiesige Journalisten an dieser Wahl eine Menge auszusetzen haben mögen. Umgekehrt gibt es Staaten, die nicht einmal ansatzweise Wahlen zulassen, ohne als Regime tituliert zu werden, etwa Saudi-Arabien oder Katar. In anderen Staaten wiederum gibt es demokratisch gewählte Regierungen, die der Westen nicht haben will und gegen die er deshalb Militärputsche fördert, etwa in Ägypten 2013 und – nicht erfolgreich – in Venezuela 2018.

Der Begriff Regime soll ausdrücken, dass die so bezeichneten Regierungen aus Sicht der jeweiligen Journalist*innen oder Publikationen nicht zur Herrschaft legitimiert sind. Eine Begründung für diese Einschätzung wird dabei allerdings nicht immer mitgeteilt. Zumindest mitgedacht ist allerdings die Aussage, dass die Regierenden in »Regimes« nicht von ihrer Bevölkerung gewollt sind und diese daher vermutlich mit Unterdrückung, Repression, diktatorischen oder autoritären Maßnahmen herrschen. Diese Regierungen sind also, trotz eventuell formell demokratischer Wahlen, nach Auffassung der hiesigen Medien letztlich undemokratisch. In dieser Wortwahl steckt eigentlich so etwas wie ein halber Aufruf zum Umsturz, gar zur Revolution – aber wohl nicht, weil man so viel Mitleid mit der dort ausgebeuteten Arbeiter*innenklasse oder den unterdrückten Massen hat, sondern weil diese Staaten der hiesigen Politik irgendwie in die Quere kommen.

Dass der russische Präsident Putin sein Vorgehen als »militärische Spezialoperation« bezeichnete, wurde von den deutschen Medien sofort als ideologischer und zynischer Versuch der Vertuschung enttarnt. Eigene Sprachregelungen von der »humanitären Intervention« in Jugoslawien und dem »Afghanistan-Einsatz« wurden derweil von deutschen Journalist*innen ohne Zögern mitgetragen, bis der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) 2010 begann, von Krieg zu sprechen. Im Fall des russischen Kriegs wusste aber jede*r Journalist*in sofort, dass derartige Wortschöpfungen eine unfassbare Verharmlosung des Sachverhalts darstellen, die ausgegeben werden, um die Bevölkerung zu beruhigen – was in der Tat die verharmlosende Seite am Ausdruck »militärische Spezialoperation« ist – und um vor der Welt moralisch besser dazustehen.

Dämonisierung des Gegners

Zudem lancierten Journalist*innen die Vorstellung, dass der »Massenmörder Putin«, wie ihn »Bild« im März 2022 bezeichnete, sich gerade anschicke, ganz Europa zu erobern, wenn man ihn nicht stoppen könne. Putin wurde auch als der »Wahnsinnige im Kreml« vorgestellt, der als nächstes »über uns« herfallen werde und »jegliche menschliche Grenzen« überschreite, wie es Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im März 2022 gegenüber der »B.Z.« formulierte. (Dabei soll man natürlich an harmlose Bürger in ihren Vorgärtchen denken und nicht etwa an Staaten, die sich in ihrer geopolitischen Konkurrenz an den Kragen gehen.) Nicht beirren lassen sollte sich das deutsche Publikum wiederum von den in eine gegensätzliche Richtung deutenden Reportagen über den Dilettantismus der russischen Armee, die maroden Sowjet-Panzer Marke Uralt und fehlende Munition. Diese Nachrichten sollten nämlich so interpretiert werden, dass der Westen zweifellos siegen würde.

Das Russland-Bild der demokratischen freien Medien in Deutschland ist seit Kriegsbeginn also wieder sehr schlicht, um es vornehm auszudrücken. Wie der Journalist Johannes Schillo im März vergangenen Jahres auf Telepolis schrieb: Der alte Feind sei auch der neue. Entsprechend kriegen »die Russen« auch als Kollektiv die erneuerte Feindschaft zu spüren. So darf im öffentlich-rechtlichen Fernsehen etwa gesagt werden, dass Russ*innen im »kulturellen Sinn« keine Europäer seien, »auch wenn sie europäisch aussehen« (Politologin Florence Gaub bei »Markus Lanz« im März 2022). Im Spiegel räsonierte die Autorin Juno Vai im Juni 2022 über die Gewaltaffinität der Russen, die »in wohliger Trägheit Verantwortung« abgäben und so »zum Objekt, zur Verschiebemasse, zum Kanonenfutter« würden – offenbar im Unterschied zu den zwangsrekrutierten ukrainischen Männern.

Dies sind rassistische Aussagen, weil sie politisch-gesellschaftliche Tatbestände naturalisieren beziehungsweise kulturalisieren und damit als unveräußerliche Eigenschaften der Menschen ausgeben. »Die Russen« werden so aus dem Kollektiv der Europäer*innen ausgegrenzt – fast möchte man ihnen wünschen, dass sie gar nicht dazugehören wollten. Zu guter Letzt wird an ihnen noch entdeckt, dass sie besonders zur Unterordnung neigten, angeblich im Unterschied zu anderen Völkern. Letzteres »entdeckt« eine deutsche Journalistin nur, weil sie es eigentlich gut fände, wenn die russischen Untertanen den Krieg ihres Staats nicht so brav mitmachten, wie es die ukrainische, US-amerikanische oder deutsche Bevölkerung tut, sondern stattdessen ihren Chef zum Teufel jagten.

Das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene Magazin »Fluter«, das sich mit der Ukraine beschäftigt, thematisiert unter der Überschrift »Was ist hier passiert?« die »Verbrechen, die von den russischen Truppen begangen werden« (Heft 86, März 23). Nichts findet sich hingegen zu den gleichzeitig stattfindenden ukrainischen Kriegsverbrechen, nichts über das, was die Asow-Brigade und ähnliche Truppen von 2014 an im Donbass angerichtet haben. Diese Einseitigkeit der Berichterstattung verstößt gegen die Kriterien der Politikdidaktik, die sich die Bundeszentrale im »Beutelsbacher Konsens« selbst gegeben hat: genauer gesagt, gegen das Überwältigungsverbot, das die kontroverse Darstellung komplexer Themen gebietet; was in der Politik kontrovers verhandelt wird, muss demnach auch in der politischen Bildung kontrovers abgebildet werden. So verhetzt man ganz staatsoffiziell die Jugendlichen gegen Russland und die Russ*innen.

Dekontextualisierte Informationen

Natürlich weiß man in den deutschen Redaktionen trotzdem, dass die Behauptung einer alleinigen Verantwortlichkeit Putins für den Konflikt nicht stimmt. Schließlich hat man ja selbst die Nachrichten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte geliefert. Aber in der Berichterstattung über den laufenden Krieg ist man nicht bereit, den Zusammenhang herzustellen zwischen all den Fakten, die in den eigenen Archiven schlummern. Hier eine unvollständige Liste: das Versprechen an Gorbatschow zu Beginn der 90er Jahre, die Nato »keinen Zentimeter« nach Osten auszudehnen, und die darauf folgende Nato-Osterweiterung um 14 Länder und 1000 Kilometer; der von den USA finanzierte Euro-Maidan-Protest zum Putsch gegen die gewählte ukrainische Regierung (2013) und die Reaktionen darauf mit Gründung der Volksrepubliken und dem Referendum auf der Krim, weil Russland um die Sicherheit seiner Schwarzmeer-Flotte fürchtete (2014); der Kampf der Ukraine gegen die separatistischen Republiken mit 14 000 Toten; die stetige Aufrüstung des Landes durch die westlichen Staaten, die Angela Merkel (CDU) als den eigentlichen Zweck von »Minsk II« eingestanden hat; die Ankündigung Wolodymyr Selenskyjs, dass sein Land in die Nato eintreten und eventuell wieder über Atomraketen verfügen wolle; die Zurückweisung aller russischen Beschwerden und Sicherheitsbedenken durch Nato-Mitgliedsstaaten.

Gleichgültig, wie man die einzelnen Punkte bewertet, wird jedenfalls klar, dass einige essenzielle Dinge zwischen Russland und der Nato umstritten sind, und zwar seit Jahrzehnten. Eine solche Zusammenfassung des Stands der Auseinandersetzung hatte in der medialen Darstellung des Ukraine-Kriegs aber vom ersten Tag an keinen Platz. Und zwar nicht, weil in der Aufregung keine Zeit mehr gewesen wäre, auch noch eine komplizierte Vorgeschichte einzubeziehen. Wäre das so gewesen, hätte man ja geradezu dankbar sein müssen für die wenigen Stimmen, die diese Vorgeschichte ergänzen wollten. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall: Alle, die es gewagt haben, in dieser Zeit an die oben genannten Fakten auch nur zu erinnern, sahen sich harten Angriffen ausgesetzt, von denen »Putin-Versteher« noch eine der harmlosen Varianten war.

Der Hinweis auf die existierenden Konflikte und die Vorgeschichte inklusive der russischen Beschwerden gegenüber der Nato wurde als Relativierung der feststehenden und ständig laut verkündeten Alleinschuld Putins aufgefasst. So etwas durfte im Land der Meinungs- und Pressefreiheit nicht sein, wer gegen das »Nato-Narrativ« verstieß, bekam das zu spüren. Diejenigen, die diese Linie nicht widerspruchslos mitmachten, wurden nach allen Regeln der demokratischen Kunst öffentlich bedrängt, vom Verfassungsschutz beobachtet, finanziell und in ihren Wirkungsmöglichkeiten geschädigt – ganz ohne gerichtliche Entscheidungen und ohne nennenswerte Proteste der »lebendigen Zivilgesellschaft«.

Selektive Berichterstattung

Hinzu trat eine ausgesprochen selektive Berichterstattung. Für deutsche Redaktionen sind nämlich keineswegs alle brutalen Kriege auf dem Erdball gleich wichtig. Auch wenn gerne mit einem humanistischen Entsetzen über die »zivilen Opfer« gesprochen wird – ein Entsetzen, das sich allerdings niemals auf junge Männer in Uniform bezieht –, ist festzuhalten: Es gibt auf der Welt noch andere Kriege von großer Brutalität und mit horrenden Opfern unter der Zivilbevölkerung, die auf ein relativ geringes Medieninteresse stoßen. Dazu gehören der seit 2015 laufende Jemen-Krieg, bei dem bislang nach offiziellen Zahlen 500 000 Menschen getötet wurden und den das UN-Flüchtlingshilfswerk als »die größte humanitäre Katastrophe weltweit« bezeichnet. Im Unterschied zum Ukraine-Krieg scheint sich über diese Opfer in Deutschland weniger Fassungslosigkeit einzustellen – vielleicht, weil dieser Krieg von Saudi-Arabien mit deutschen Waffen geführt wird und sich gegen iranischen Einfluss in der Region richtet?

Und auch Kriegsverbrechen gibt es vor allem da, wo man sie sehen will; im Ukraine-Krieg finden sie deshalb auf russischer Seite statt. Im Fall von Butscha wurde ein solches Verbrechen zufällig genau zu dem Zeitpunkt festgestellt, als sich die ukrainische Seite bereit zeigte für Friedensverhandlungen mit Russland, was zu diesem Zeitpunkt im Westen, insbesondere in Großbritannien, nicht erwünscht war. Während russische Medien – so sie noch zu uns durchdringen; die deutsche Ausgabe von Russia Today etwa wurde de facto verboten – ebenso wie Human Rights Watch oder Amnesty International Meldungen über die ukrainische Kriegsführung bringen, die ebenfalls auf Kriegsverbrechen hinweisen, hat die deutsche Presse in dieser Frage nichts zu melden.

Dabei gehören Brutalität und Grausamkeiten zum Kriegführen auf allen Seiten schlicht dazu, und die ukrainischen Nazibataillone haben ihre Absicht, das »russische Böse« in ihrem Land auszulöschen, längst offen ausgesprochen. Aber Nazis in der Ukraine (jedenfalls in nennenswerter Zahl oder mit Einfluss in Regierung oder Armee) wollen die deutschen Medien sowieso nicht mehr bemerken, seit der Krieg läuft. Im Unterschied zur innenpolitischen Situation im »autoritären Russland« interessiert die Lage in Hinblick darauf die Medien ebenso wenig wie der repressive Umgang mit der ukrainischen Opposition. Weder wurde – im Unterschied etwa zum Fall Assads in Syrien – gegen die Volksrepubliken der Vorwurf erhoben, dass ein Präsident »das eigene Volk bombardiert« (so geschehen in Donezk und Lugansk). Noch informierten deutsche Nachrichten darüber, dass die Bezeichnung der militärischen Aktionen Kiews gegenüber den Volksrepubliken als »innerukrainischer Konflikt« oder »Bürgerkrieg« zum Straftatbestand erhoben wurde und dass die Ukraine unliebsame Oppositionelle per Interpol in ganz Europa verfolgen lässt, etwa den Videoblogger Anatolij Scharij in Spanien.

Präsident Selenskyj – der »Diener des Volks«, dessen Wahl der Oligarch Igor Kolomoiskyj organisiert hat, was der Süddeutschen Zeitung 2019 noch einige kritische Bemerkungen wert war –, gilt den deutschen Medien seit Kriegsbeginn als strahlender Held im Militär-Look und selbstverständlich als lupenreiner Demokrat. Berichte darüber, dass Selenskyj Mitte Mai 2022 elf Oppositionsparteien und ihre Zeitungen verboten hat (die Kommunistische Partei der Ukraine hatte dieses Schicksal bereits 2015 ereilt) und die Bevölkerung per Einheitssender gegen alles Russische aufhetzen lässt, suchte man in den Mainstream-Medien vergebens. Gleiches gilt für die Tatsache, dass gewählte ukrainische Abgeordnete öffentlich aufgefordert werden, »sich lieber still aus dem Parlament zu schleichen, solange sie noch gehen« könnten.

Bemerkenswert ist auch, dass Vorfälle wie die Sprengung der Nordstream-Pipelines, die ansonsten als mögliche staatsterroristische Akte große Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden, weitgehend unter den Teppich gekehrt wurden. Nach einigen Tagen mit abstrusen Meldungen wie der, dass Russland seine eigenen Pipelines in die Luft gesprengt habe, gaben sich die deutschen Journalist*innen weitgehend damit zufrieden, dass die Ermittlungen laufen und das »Staatswohl eine weitere Auskunft unmöglich« mache, wie die Staatssekretäre Baumann und Graichen auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei im Oktober 2022 hin verkündeten. Der Hinweis auf einen (staats-)terroristischen Akt rechtfertigt normalerweise öffentliche Empörung und praktische Vergeltungsmaßnahmen, aber das ist in diesem Fall, wo möglicherweise deutsche Verbündete am Werk waren, offenbar anders. Und dass Staatswohl vor Aufklärung geht, wurde von der freien Presse in Deutschland ohne weitere Beschwerden akzeptiert.

Die Standpunkte auswärtiger Regierungen und Konfliktparteien zu dokumentieren, etwa die der indischen oder der südafrikanischen Regierung zu ihrer Ablehnung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland – hält die deutsche Presse weitgehend für überflüssig. Dabei wäre die Zeichnung eines vollständigen Bildes von einer um Aufklärung und sachliche Beurteilung bemühten Presse unbedingt zu erwarten, zumal angesichts der Bedeutung dieses spezifischen Kriegs. Aber offenbar ist eine Berichterstattung, die auch die gegnerische Partei mit ihren Überlegungen und Beschwerden zu Wort kommen lässt und den Leser*innen und Zuschauer*innen damit eine umfassende, kontroverse und globale Urteilsbildung erlaubt, nicht gewollt.

Emotionalisierung der Informationen

Dafür hat die Kriegsberichterstattung mit dem Ukraine-Krieg im deutschen Journalismus ein Maß an Emotionalisierung hervorgebracht, das den Opfern westlicher Kriege in den vergangenen 30 Jahren nicht zuteil wurde. Seit dem ersten Tag bemühen sich die Medien Abend für Abend, dem Publikum die Brutalität dieses spezifischen Krieges anhand drastischer Bilder und menschlicher Schicksale nahezubringen: bombardierte Häuser in ukrainischen Städten, Menschen, die in U-Bahn-Schächten Schutz suchen, Interviews mit Ukrainer*innen, die russische Angriffe verfluchen und nach westlichen Waffen verlangen. Angesichts dieser Bilder, so soll man sich denken und so wird es ab und an auch explizit ausgesprochen, ist jedes weitere Räsonieren über die Ursachen des Krieges und die Interessen der Konfliktparteien überflüssig.

Hier geht es nur noch um eines: Hilfe für diese armen Menschen – und die besteht fraglos in immer mehr Waffen. Genau das sagen die betroffenen Ukrainer*innen, ob Soldaten oder Zivilist*innen, ja selbst in die Kameras. Dass nur 100 Kilometer südöstlich ebenso Häuser bombardiert, Menschen getötet und ins Elend gestürzt werden, dieses Mal eben von der ukrainischen Armee, zählt nicht für eine Berichterstattung, die sich selbst als ausgewogen bezeichnet. Ebensowenig kommt vor, dass mit Sicherheit auch eine Menge Menschen in der Ukraine die Lage anders sehen. »Unsere« Frontreporter konnten in diesem Krieg übrigens zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ihren Gefühlen freien Lauf lassen, ohne auf irgendeine friedensbewegte Political Correctness Rücksicht zu nehmen. Die militärischen Leistungen der ukrainischen Soldaten wurden überschwänglich gelobt und die »unseres« 1A-deutschen Kriegsmaterials mit viel Stolz als buchstäblich umwerfend präsentiert.

Resümierend lässt sich feststellen: Würde man die Leistung der deutschen Medien im Ukraine-Krieg an Zielen wie Informationsweitergabe und nüchterner Aufklärung messen, wäre die Bilanz düster. Das erlaubt den Rückschluss, dass die Journalist*innen in Deutschland ihre Aufgabe mehrheitlich darin sehen, eine Parteinahme für die Nato-Linie und die unbedingte Verurteilung Russlands zu erzeugen. Das wiederum sollte man als Lehrstück über die Funktion der Medien in der Demokratie auffassen: Die Journalist*innen tun mit ihrer parteilichen und moralisierenden Berichterstattung alles dafür, eine loyale Heimatfront herzustellen. Faktizität, Rationalität, Kontroversität und Logik werden von den Medienschaffenden in Kriegszeiten geopfert für die »gute Sache«. Mögen sie in Friedenszeiten die Regierung kritisch am Maßstab von Erfolg und Anstand bei der Ausübung ihrer Aufgaben beobachten, sind sie im Krieg ganz um die ideologische Unterstützung »ihrer« Nation bemüht. Und genau darin sind sie tatsächlich die Vierte Gewalt. Die Frage im Anschluss müsste nun übrigens heißen: Warum wird diesen Patriot*innen das eigentlich alles geglaubt?

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