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Postnormale Denkweisen: Hurra, die Welt geht unter
Guillaume Paoli versucht in »Geist und Müll« die Apokalpyse zu denken: nicht als religiöses Ereignis, sondern als Resultat der Profitmaximierung
Die Klimakatastrophe ist bittere Realität. Ebenso die Umweltzerstörung sowie der Raubbau an Mensch und Umwelt durch den globalen Kapitalismus. All diese Tatsachen sind lange bekannt. Sie zu wiederholen oder gar zu leugnen, bringt keinen Erkenntnisgewinn. Von Bedeutung bleibt allein, wie man sich zu ihnen verhält.
Doch die Welt tut weiter so, als ließen sich Meldungen vom Artensterben, der Waldvernichtung, den Überflutungen und Hitzetoten zwischen die meist belanglosen Nachrichten der letzten Promi-Skandale schieben. Dieses seltsame business as usual, bei dem alle wissen, dass es so nicht weitergehen kann und es trotzdem dauernd so weitergeht, zeitigt einen absurden Effekt: Nicht nur das Unheil erscheint unwirklich, sondern auch und vor allem der gegenwärtige Alltag. »Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe. Sie ist nicht das jeweils Bevorstehende, sondern das jeweils Gegebene«, so lautet ein viel zitiertes Bonmot des Philosophen Walter Benjamin von 1938 dazu. Vor diesem Hintergrund ist der in Frankreich geborene und in Berlin lebende Philosoph Guillaume Paoli angetreten, etwas intellektuelle Unruhe zu stiften.
»Erste Generation der letzten Menschen«
Paoli ist mit seinem Essay »Geist und Müll« ein flott geschriebenes, ein mitreißendes Buch gelungen, das direkt in die öffentliche Debatte eingreift und aktueller nicht sein könnte. Von Lockdowns aufgrund der COVID 19-Pandemie über Klimaproteste bis hin zu globalen Konzernen, die die Welt zerstören, von Verschwörungsideologien bis hin zu Revolution und Emissionshandel geht es in dem Buch wirklich um alles. Als Philosoph hätte Paoli die Möglichkeit, all diese Dinge, die die Welt bewegen, von oben oder von der Seite zu betrachten. Doch das reicht ihm, der 2019 ein sehr parteiisches und gelungenes Buch über die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich geschrieben hat, nicht. Auch mit seinem aktuellen Werk will er eingreifen – und das gelingt ihm sehr thesenreich und meinungsstark. Vor dem Hintergrund des alltäglich grassierenden Desasters will er dazu beitragen, zumindest noch das Denkvermögen zu retten, wie er selbst schreibt.
Inspiration findet Paoli beim Schriftsteller, Technikkritiker und Medienphilosophen Günter Anders, in den 1950er Jahren eine führende Persönlichkeit der Anti-Atomkraft-Bewegung. Bereits 1960 verkündete Anders angesichts des Atomzeitalters, dass es nunmehr keine Zukunft mehr gebe, nur noch eine Frist. Wir sind, stelle Anders fest, die »erste Generation der letzten Menschen«. Nicht nur angesichts der Proteste von Klimagruppen wie der Letzten Generation ist Anders für Paoli aktueller denn je. Die Apokalypse sei keine Metapher mehr, sondern reale Wahrscheinlichkeit. Neben den Atombomben bedroht nun auch die Klimakatastrophe das menschliche Überleben.
Eine sichere Katastrophe
Der Weltuntergang ist auf vielen Teilen der Erde jedoch bereits eingetreten. Paoli macht klar, dass die Angst vor dem Ende der bisherigen Welt ein Luxus der privilegierten Industrienationen ist. Durch Kapitalismus und (Neo-)Kolonialismus ist die Welt der anderen bereits untergegangen: Indigene, Nachfahren von Versklavten, Geflüchtete, Vertriebene, Entrechtete – die Mehrheit der Menschheit – haben vieles bereits verloren (oder gar nie gehabt). Doch auch für den Rest wird es durch die Zerstörung der letzten, wilden Lebensräume durch Monokulturen und Betonierung immer enger. Der Westen glaubt, die Probleme durch technischen Fortschritt lösen zu können, die eigentliche Ursache des Unheils bleibt damit aber unangetastet.
Das wissen letztlich alle – selbst Regierungen und Konzerne sprechen davon, dass nur schnelle und radikale Veränderungen das Ende der Welt noch aufhalten oder zumindest verzögern können. Doch durch die ständige Wiederholung ist diese Wahrheit zum Slogan oder Mantra verkommen. Und natürlich tun, auch darauf weist Paoli hin, weder Staaten noch Konzerne irgendetwas für radikalen Wandel. Vielmehr werden sogar angesichts der drückenden globalen Probleme weiterhin individuelle Lösungsvorschläge propagiert. Mit Bambus-Zahnbürsten kann man jedoch nicht gegen den Klimawandel vorgehen. Selbst wenn alle Menschen kein Fleisch mehr essen und nur noch lokal Hergestelltes und Gebrauchtwaren konsumierten, würden die weltweiten Emissionen um lediglich 25 Prozent sinken, rechnet Paoli vor. Die Verursacher des Klimawandels sind Konzerne und Infrastrukturen, die unabhängig von einzelnen Menschen funktionieren – so »sparsam« sie auch sein mögen. Hundert Konzerne verursachen drei Viertel aller Treibhausgasemissionen der Welt. Dies gilt es zu verstehen und dort gilt es einzugreifen.
Dass dies nicht geschieht, ist Aufgabe herrschender Ideologie. Als Leitmotiv der Gegenwart identifiziert Paoli die »Anpassung«. Die Drohung lautet, dass untergeht, wer sich an die neuen Verhältnisse nicht anpasst. Da diese Anpassung im Sinne der vermeintlich guten Sache eines »grünen Kapitalismus« formuliert wird – Gesundheitsschutz, Katastrophenschutz, Umweltschutz –, könne auch niemand so recht etwas einwenden. Nur böse Menschen könnten dem widersprechen, und deren Inhalte würden nicht gehört oder gelöscht, so Paoli. Somit wird Zustimmung und Wohlwollen erreicht – auf dass sich bloß nichts ändert.
Aufgabe der Rebellion
Doch es gibt durchaus Widerstand. Weltweit häufen sich Krawall und Aufstände, die spontan entstehen und die häufig keinem ausformulierten, politischen Programm folgen. Sie sind lediglich eine Rache an der Gegenwart. Dies scheint den aktuellen Rebell*innen und Unangepassten zu reichen. Damit ist die Tragödie der Gegenwart ein paradoxer Zustand: Eine Revolution erscheint gleichzeitig unmöglich und ist ebenso unabdingbar. »Revolution oder Tod«, schrieb der französische Autor Guy Debord 1981, sei keine lyrische Parole mehr. Sie sei angesichts aller verheerenden Klimadaten und -prognosen selbst das letzte Wort der Wissenschaft, nur könne sie dies nicht selbst aussprechen.
Dies bleibt die Aufgabe der Rebell*innen. Sozialrevolutionäre Bewegungen, dem geht Paoli gegen Ende seines Essays nach, gelingt es zumindest, Verbindungen von Kommunikationswegen sowie den Aufbau von Beziehungen zu schaffen. Viel ist das nicht und es ist ebenso beschränkt wie etwa Aktionen der »Klimakleber«. Doch gerade darin zeigen sie die Unermesslichkeit der Aufgabe und die Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Mittel und Ansätze – und sie bringen die Willfährigkeit und Zustimmung der Massen zum Bestehenden sowie die Würdelosigkeit der Würdenträger auf die Tagesordnung. Damit eröffnen sie zumindest einen Raum, um über Alternativen nachzudenken. Richtiges Denken scheint angesichts der drohenden Apokalypse nur eine schwache Lösung zu sein, aber wohl gleichzeitig das Beste, auf das wir hoffen können. Guillaume Paoli hat mit »Geist und Müll« einen wertvollen Beitrag dazu geleistet.
Guillaume Paoli: Geist und Müll: Von Denkweisen in postnormalen Zeiten. Matthes & Seitz 2023, 268 S., geb., 22 €.
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