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Nach der Wahl in der Türkei: Zurück zur Realpolitik
Nach der Türkeiwahl hofft die deutsche Politik weiter auf enge Zusammenarbeit mit Recep Tayyip Erdoğan
Direkt in der Wahlnacht, als Recep Tayyip Erdoğan als Präsident bestätigt worden war, machte er vor Zehntausenden Anhänger*innen vor seinem Palast in Ankara seine Agenda deutlich: »So Gott will, ist die Wahl das Tor zum Jahrhundert der Türkei«. In seiner Rede verspottete Erdoğan seinen Kontrahenten Kemal Kılıçdaroğlu als Versager. Die Opposition bezeichnete er als »Terrorhelfer« und als »Unterstützer von Homosexuellen«, die es auf die türkische Familie abgesehen hätte.
Nun ist Erdoğan für weitere fünf Jahre im Amt bestätigt. »Gewählt ist gewählt« scheint die Reaktion der deutschen Politik zu sein. So hat etwa Bundeskanzler Olaf Scholz Erdoğan direkt zur Wiederwahl gratuliert. »Nun wollen wir unsere gemeinsamen Themen mit frischem Elan vorantreiben«, so der SPD-Politiker. In einem Telefonat lud er Erdoğan nach Berlin ein und betonte die enge Verbundenheit der Länder, nicht zuletzt als gemeinsame Verbündete in der Nato. Auch andere Politiker gratulierten Erdoğan zur Wiederwahl. »Ich freue mich darauf, die EU-Türkei-Beziehung weiter auszubauen«, so EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Es sei sowohl für die EU als auch für die Türkei von strategischer Bedeutung, »diese Beziehungen zum Wohle unserer Völker voranzutreiben«.
Erdoğan, einst Hoffnungsträger des Westens, regiert die Türkei zunehmend mit harter Hand und hat das Land in den letzten 20 Jahren in eine Autokratie geführt. Die westliche Politik scheint sich daran gewöhnt zu haben und stellt ihn als verlässlichen Partner dar. Auf einer Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin legten deutsche Spitzenpolitiker deutlich ihre Gründe dafür dar. Armin Laschet (CDU) erklärte dort, dass die Wahlen in der Türkei »fair abgelaufen« seien. Allein die Tatsache, dass Erdoğan sich einer Stichwahl stellen musste, belege, dass die »demokratischen Strukturen in der Türkei lebendig« seien. Die Türkei sei ein strategischer Partner. Ebenso viel Realpolitik ließ auch der SPD-Mann Macit Karaahmetoğlu erkennen, der gleichzeitig Präsident der Deutsch-Türkischen Gesellschaft ist. Man müsse nun weiter eng mit der Türkei zusammenarbeiten, so Karaahmetoğlu. Einzelne kritische Töne waren von Canan Bayram (Bündnis 90/Die Grünen) zu hören, die als Wahlbeobachterin in der Türkei war und betonte, dass es durchaus Unregelmäßigkeiten gegeben habe. Doch auch sie hoffte auf mehr Verlässlichkeit in den deutsch-türkischen Beziehungen.
Deutschland zählt zu den wichtigsten Handelspartnern der Türkei, und die Türkei ist mit Blick auf den sogenannten »Flüchtlingsdeal« bisher eine wichtige Partnerin. Bei der Veranstaltung der Bundeszentrale zogen sich die deutschen Politiker*innen auf diese realpolitische Konstellation zurück. Kein Wort war dort zu hören von der Realität der türkischen Verhältnisse: Das Land leidet unter einer massiven Währungskrise und hat weiterhin mit den Folgen des schlechten Krisenmanagements nach dem Erdbeben zu kämpfen. Hinzu kommt die Politisierung der Justiz und die Aushöhlung der Demokratie.
Daher kritisierte der Menschenrechtler Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker, dass Politiker*innen wie Laschet von freien oder fairen Wahlen sprechen. Es dränge sich der Eindruck auf, dass mit zweierlei Maß gemessen werde. Bei Staaten, die im Konflikt mit der Nato und EU stünden, werde von gefälschten Wahlen gesprochen und mit politischen oder wirtschaftlichen Sanktionen reagiert. Doch dem türkischen Autokraten werde sofort zum Wahlsieg gratuliert. »Das ist kurzsichtig und unglaubwürdig.«
Denn zweifellos war die Stichwahl alles andere als fair. Bereits zuvor hatte Erdoğan seinen aussichtsreichsten Konkurrenten, den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu, mithilfe der Justiz ausschalten lassen. Zudem droht der linken Partei HDP ein Verbotsverfahren. Im Wahlkampf konnte sich Erdoğan auf seine nahezu vollständige Kontrolle der Medien verlassen. Neben eigener Wahlwerbung ließ er auch Fake-Videos verbreiten, die Kılıçdaroğlu mit der PKK in Verbindung zu bringen. Laut Reporter ohne Grenzen liegt die Türkei bei der Pressefreiheit auf Platz 165 von 180.
Während die deutsche Politik all dies hinter ihren Schlagwörtern von »strategischer Partnerschaft« und »Verlässlichkeit« nicht sieht oder nicht sehen will, zeigte sich direkt nach der Wahl, was Erdoğans »Jahrhundert der Türkei« bedeutet: Wegen ihrer Berichterstattung über die Wahlen werden nun Oppositionssender bedrängt. Die nationale Rundfunkbehörde gab bekannt, dass Untersuchungen gegen insgesamt sieben Sender eingeleitet wurden, die in der Wahlnacht »demütigende Aussagen« über das türkische Volk verbreitet hätten. Hinzu kommen Erdoğans außenpolitische Ambitionen, wie die unverminderten Angriffe der Türkei auf Kurd*innen in Syrien und im Irak. In der türkisch besetzten syrischen Kurdenregion Afrin feierten syrische Islamisten Erdoğans Sieg und drangsalierten dabei die kurdische Bevölkerung.
Wie all das mit dem »frischen Elan« von Bundeskanzler Scholz vereinbar ist, bleibt unklar. Bezogen auf die deutsch-türkischen Beziehungen scheint das Prinzip zu regieren, dass Inhalte kaum eine Rolle spielen. »Scholz und andere westliche Politiker hätten Erdoğan zumindest auffordern können, politische Gefangenen freizulassen«, ergänzte Kamal Sido. »In der Außenpolitik scheint es vor allem um Staateninteressen zu gehen und nicht um Demokratie und Menschenrechte.« Für viele türkische Oppositionelle muss daher die Einladung Erdoğans durch den Bundeskanzler wie ein Schlag ins Gesicht gewirkt haben.
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