120 Tage Angriffe auf die unveräußerlichen Freiheiten
Nach den Attentaten vom 11. September 2001 wurden demokratische Rechte weltweit eingeschränkt
120 Tage nach den terroristischen Attentaten erscheint es uns angemessen, eine erste Bilanz zu ziehen.(...) Denn die Angriffe auf die Menschenrechte, die Pressefreiheit und Informationsfreiheit im Internet haben zugenommen.
Wir stellen also in der Folge die »Top 15« vor, die fünfzehn Länder, die bei der Einschränkung der Freiheit führend sind. Es ist die Hitparade der Staaten, in denen die häufigsten und nachhaltigsten sicherheitspolitischen Ausschweifungen und ein Abgehen von der Normalität zu beobachten sind.
Zwei Arten von freiheitsbeschränkenden Staaten sind zu unterscheiden: diejenigen, die in der Folge der Attentate in »Panik« gerieten und zu Rechtsmitteln griffen, die die Freiheit beschränken, und die »opportunistischen« Staaten, die den Vorwand der Terrorbekämpfung nutzen, um bisher unpopuläre Maßnahmen durchzusetzen oder um Minderheiten und Gegner zu unterdrücken. Die unschuldigen Opfer im World Trade Center und Pentagon, in den Städten und Dörfern Afghanistans sind unvergessen. Muss man dennoch alles im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus zulassen? Wir glauben nicht. Wir sind weiterhin »wachsam« und »stehen zusammen«. Darum veröffentlichen wir diese Charts der freiheitsbeschränkenden Staaten.
Platz 2: Großbritannien - das erste Land, das gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt
Bis zum 11. September galt das Vereinigte Königreich als zu milde gegenüber religiösen Aktivisten, mit anderen Worten, als sicherer Ort für vermutliche Terroristen. Seitdem hat das Land eine völlige Kehrtwendung gemacht. Das vom Parlament Mitte Dezember verabschiedete Antiterror-Gesetz macht das Königreich Ihrer Majestät zur ersten Nation, die einseitig gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt, wobei das Internet »der Kontrolle der Justiz« unterstellt wird.Das Antiterror-Gesetz: Haft ohne strafrechtliche Untersuchung und Anklage
Der hartnäckige Widerstand des Oberhauses des britischen Parlaments blieb erfolglos: die Abgeordneten stimmten dem von Tony Blairs Regierung ausgearbeiteten »Gesetz zum Kampf gegen den Terrorismus« zu. Kritisiert werden insbesondere zwei Maßnahmen: die Möglichkeit, Ausländer ohne Untersuchungsbeschluss in Haft zu nehmen und die erhöhte Kompetenz der Polizei in Bezug auf die Überwachung des Internet, von Emails und das Abhören von Telefongesprächen. Ersteres macht aus Großbritannien das erste und einzige Land der Alten Welt, das gravierend und deutlich gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstößt. Artikel 5 dieser Konvention bestimmt, dass jede längere Haft über den strikten Rahmen einer richterlichen Anordnung hinaus verboten ist. Im Übrigen hat die Regierung erst im letzten Augenblick und angesichts einmütiger Kritik das »Delikt des Aufrufs zum religiösen Hass« aus dem Gesetzestext gestrichen.Pressefreiheit: Aufforderung an die Medien, »wahr und falsch zu unterscheiden«
Die britische Regierung, verlässlicher Unterstützer der Vereinigten Staaten im Krieg gegen den Terrorismus und bei der militärischen Operation in Afghanistan, hat sich für ein Lager entschieden. Die Mannschaft des britischen Premierministers Tony Blair rief die Medien auf, ebenfalls zu wählen, zu wem sie stehen. Sie sollten das Gleiche tun wie die Regierung, im Klima der heiligen Allianz. Der Sprecher Tony Blairs rief die Medien Anfang November und in Bezug auf ihren Umgang mit den Informationen zum Afghanistankrieg trocken zur Ordnung. »Unterscheiden Sie, was wahr und was falsch ist!« forderte der Pressechef Tony Blairs sie auf. »Die Medien dürfen nicht die Lügengespinste der Taliban und die Erklärungen des Bündnisses in einen Topf werfen oder als gleichwertig betrachten.«Freiheit im Internet: Internet-Spionage im Namen des Antiterrorkampfes - unter anderem
Nach den USA, Kanada und Frankreich begann auch Großbritannien mit einer intensiven Überwachung des Web. Dem Beispiel aus Paris folgend verlängerte London den Zeitraum der Speicherung der Daten von Internet-Usern durch die Zugangs-Provider. Der Innenminister verkündete überdies, dass er davon ausginge, dass er das Recht habe, »Online erfolgende Finanztransaktionen anzusehen oder private Emails zu kontrollieren«.Konkret entlässt das neue Gesetz die Polizei weitgehend aus der Pflicht, Maßnahmen durch einen Richter autorisieren zu lassen. Zum Handeln genügt das grüne Licht durch das Innenministerium oder einen höheren Beamten desselben. Derart drastische Maßnahmen provozieren Protest: die Zugangs-Provider beabsichtigen die Verlagerung ihrer Server aus Großbritannien.
Platz 4: Frankreich - das Gesetz über die Sicherheit im Alltag schwächt die Meinungsfreiheit
Am 15. November 2001 verabschiedete Frankreich in aller Eile und ohne wirkliche Diskussion ein Antiterror-Gesetz, das an einen juristischen Rundumschlag erinnert und Terrorismus und Kriminalität miteinander verquickt. Dieses, für verfassungswidrig erachtete, Gesetz über die Sicherheit im Alltag (LSQ - Loi sur la sécurité quotidienne) schränkt die Meinungsfreiheit im Internet drastisch ein.Das Gesetz über die Sicherheit im Alltag: Das Internet aufs Korn genommen
Nach den Attentaten vom 11. September war die Regierung bemüht, schnell zu reagieren, und legte den Abgeordneten des Parlaments ein Maßnahmenpaket im Kampf gegen den Terrorismus vor. Dieses war nicht »maßgeschneidert«, um auch die nebulösen Formen der terroristischen Bedrohung zu umfassen. Neue Bestimmungen ergänzten, hastig formuliert, einen bestehenden Gesetzestext, nämlich das Gesetz über die Informationsgesellschaft LSI (Loi sur la société de l'information).
Das LSQ ist ein Rundumschlag geworden und umfasst zur gleichzeitigen Umsetzung dreizehn so genannte »Antiterror«-Gesetzesänderungen. Weiterhin bietet es die Möglichkeit, jemanden anonym zu beschuldigen, ohne dass sich die beschuldigte Person von Angesicht zu Angesicht mit dem so geschaffenen »anonymen Zeugen« auseinander setzen könnte; es ermöglicht den genetischen Fingerabdruck jeder Person, die des einfachen Diebstahls beschuldigt wird; die Durchsuchung von Fahrzeugen; Hausdurchsuchung ohne richterliche Prüfung und in Abwesenheit des/der Betroffenen; die Möglichkeit des Verbots von Versammlungen in Gebäudehallen; die Übertragung polizeilicher Befugnisse auf private Sicherheitsdienste; und es beinhaltet Sicherheitsmaßnahmen im Rahmen der Einführung des Euro.
Neben den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen dieser gesetzlichen Bestimmungen kritisieren die Gegner das Gesetz auch, weil es gemeines Recht und Antiterrorkampf miteinander verquickt. Die Kritik wird durch das Fehlen einer wirklichen Diskussion über seine Umsetzung genährt. Der Text passierte den Senat und die Nationalversammlung wie ein Brief auf dem Postweg. Kein Abgeordneter hatte den Mut, den Verfassungsrat anzurufen (was die Regel ist, wenn es um Gesetze mit verfassungsmäßig sensiblen Bestimmungen geht), damit sich dieser zur Rechtmäßigkeit des LSQ äußern könnte.
Pressefreiheit: Ordnungsruf an die Adresse der Medien
Nach den Empfehlungen des Höchsten Rates für Audiovision CSA (Conseil supérieur de l'audiovisuel) an die Adresse von Radio und Fernsehen und dem Ordnungsruf für den Nachrichtensender Al-Jazira forderten die Organisationen zur Verteidigung der Presse- und Meinungsfreiheit den CSA auf, darüber zu wachen, dass es nicht wieder zu einer Kontrolle der Information in Frankreich zu Gunsten des internationalen Kontexts käme. Diese Organisationen äußerten ihre Besorgnis angesichts der jüngsten Empfehlungen des CSA zum Umgang mit Informationen über den Afghanistankonflikt und zur Erinnerung des in Qatar ansässigen Nachrichtensenders Al-Jazira an seine Pflichten. Das Fehlen jeglicher Kontrolle des Inhalts von Nachrichten ist in Frankreich eine grundlegende Errungenschaft der audiovisuellen Medien in den letzten zwanzig Jahren gewesen.
Freiheit im Internet: Das Internet im Griff französischer Richter
Das LSQ erlaubt die Speicherung von Daten bei den Zugangs-Providern für das Internet für einen Zeitraum für ein Jahr. Richter sind befugt, unter Rückgriff auf »staatliche Instrumente, die der Geheimhaltung im Interesse der nationalen Verteidigung unterliegen«, Mitteilungen zu entschlüsseln. Die Anbieter von Verschlüsselungstechniken sind verpflichtet, den Behörden ihre Protokolle zur Verfügung zu stellen, damit diese Botschaften dechiffrieren können. Damit steht das Internet erneut unter strikter Überwachung und die Verschlüsselung wird kriminalisiert.
Platz 5: Deutschland - ein »katastrophales« Antiterror-Gesetz
Die Vereinigungen, die sich für Bürgerrechte und Datenschutz einsetzen, halten das von Innenminister Otto Schily vorgelegte und vom Bundestag verabschiedete Antiterror-Gesetz für eine »Katastrophe«. Die am stärksten die Freiheiten einschränkenden Bestimmungen dieses Gesetzes sind:Der Verdacht der Gefährdung der demokratischen und liberalen Grundordnung ist ein Grund für die Verweigerung oder Nichtverlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung. Für in Deutschland lebende Ausländer kann dies auch Ausweisungsgrund sein. Dazu kommt die unmittelbare Durchführung der Abschiebung. Die Trennung zwischen Geheimdienst und Polizei wird aufgehoben. Die Geheimdienste haben unbegrenzten Zugriff auf die gemeinsame Datenbank der Polizei INPOL und des MAD, BND, Bundesgrenzschutz und Verfassungsschutz werden in die Verfahren zur Ausstellung von Visa einbezogen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes vergleichbar mit der der Polizei.
Das Gesetz über das Ausländerregister wird geändert, damit Polizei und Geheimdienste automatischen Zugriff auf alle Daten haben.
Es ist geplant, auch Auszüge über den Unterhalt, mit denen die Identität von Ausländern und Asylbewerbern belegt wird, zu speichern, um das »tatsächliche« Herkunftsland zu belegen und ihre Ausweisung zu erleichtern. Die digitalen Fingerabdrücke und »andere Identitätsnachweise« aller Asylantragsteller müssen zehn Jahre lang aufbewahrt und sollen systematisch mit Polizeiangaben über Tatorte von Verbrechen abgeglichen werden. Sie werden vom BKA gespeichert.
Das Verbot aller Vereine von Ausländern, deren Ziele oder Aktivitäten den grundlegenden Interessen der Bundesrepublik Deutschland schaden oder Gefahr für sie bergen.
Das Recht auf den Zugriff auf Telekommunikationsdaten, die elektronisch gespeichert werden können:
- Wer kommuniziert elektronisch mit wem?
- Wer telefoniert mit wem?
- Daten zur Lokalisierung
- globale Archivierung der Inhalte, die kommuniziert werden
- neue Rechte beim Zugriff auf die Daten der Telekommunikationsunternehmen und die Verwaltung von Post und Banken für die Informationsdienste.
Die gewählten juristischen Konzepte sind ungenau und schwer zu bewerten. Ihre Auslegung erfolgt entsprechend der behördlichen Praxis. Wer bestimmt den Begriff der »Unterstützung des internationalen Terrorismus«? Wer definiert die Grenze zwischen »Terrorist« und »Freiheitskämpfer«? Die Änderungen des Gesetzes über Einreise und Aufenthalt von Ausländern in Deutschland und das Asylverfahrensgesetz sind nicht die geeigneten Mittel, um mehr Sicherheit zu erzielen. Sie fördern, im Gegenteil dazu, Vorurteile und Ressentiments in der Bevölkerung.
Platz 7: Italien - Straflosigkeit der Geheimdienste
Im Kampf gegen den Terror hat die italienische Regierung ein neues Gesetz auf den Weg gebracht, das auf eine Reform der Geheimdienste abzielt. Der Entwurf sieht vor, dass die für den zivilen Geheimdienst SISDR und den militärischen Geheimdienst SISMI Tätigen straflos Straftaten im Rahmen ihrer Missionen begehen dürfen. Das Töten oder Verletzen von Personen ist dabei allerdings ausgeschlossen. Diebstahl, illegale Beschlagnahmung, Lauschangriffe, Beschattung, Eingriffe in die Privatsphäre sollen künftig ohne richterliche Genehmigung erlaubt sein. Und es kommt noch besser: In der Arbeit an ihren Fällen ist den Agenten sogar offiziell verboten, Kontakt zur Justizbehörde zu haben. Über Maßnahmen und Missionen entscheidet der Leiter des betreffenden Dienstes, in Absprache mit dem zuständigen Minister. Die Maßnahmen sind vom Ratspräsidenten gedeckt. Dokumente, die im Zusammenhang mit den Aufträgen und begangenen Straftaten stehen, unterliegen für einen Zeitraum von fünfzehn Jahren dem Staatsgeheimnis.Platz 9: Die Europäische Union - die Harmonisierung der Terrorismusbekämpfung unter Schmerzen
Anfang November legte die EU-Kommission einen Vorschlag für einen Entscheidungsrahmen zur Harmonisierung der Terrorismusbekämpfung in den EU-Mitgliedstaaten vor. Ziel war eine Eingrenzung der Definition von »Terrorismus« und eine Annäherung bei den drohenden Strafen. Die ursprüngliche Formulierung »geeint im Terrorismus« ging hier zu weit, denn sie »ließe sich auf jede Form gesellschaftlicher Auseinandersetzung anwenden«. Die illegale Aneignung von Infrastruktur in der Absicht, den sozialen oder wirtschaftlichen Einrichtungen gravierenden Schaden zuzufügen, »führt in das Feld des "Terrorismus". Die Ermutigung zu derartigen Aktionen durch Einzelne oder eine Gruppe ist eine Straftat, die mit bis zu sieben Jahren Haft geahndet werden kann.« Die Verteidiger der kollektiven und individuellen Freiheiten kritisieren hier deutlich die »Rückkehr zum Meinungsdelikt«.Mitte November einigten sich die fünfzehn EU-Staaten auf eine neue Definition von terroristischen Akten. Schwierig war jedoch die Verständigung über die Liste von Straftaten, die vom neuen europäischen Haftbefehl abgedeckt werden. In Bezug auf die Terrorismusdefinition musste die Europäische Union eine Formulierung wählen, die explizit das Vereinsrecht, Versammlungsrecht, Demonstrationsrecht und die Meinungsfreiheit sowie die Freiheit der Gewerkschaften garantiert. Beim europäischen Haftbefehl verweigerten Italien und Irland die Erklärung der Gültigkeit einer Liste von dreißig Gesetzesverstößen, die automatisch zur Auslieferung führen. Italien widersetzte sich insbesondere der Aufnahme von Steuer- und Geldwäschedelikten in die Liste. Luxemburg wollte eine Gültigkeit des europäischen Mandats nur bei Personen, denen Gefängnisstrafen von vier Jahren drohen, anstelle der ursprünglich vorgesehenen einjährigen Haftstrafe.
Die Europäische Kommission wandte sich ihrerseits gegen »die Einbeziehung politischer Organisationen in eine gemeinsame Liste von vermutlichen Terroristen der 15 Mitgliedstaaten«. »Meines Wissens wird keine in einem Mitgliedstaat im Parlament vertretene politische Organisation von ihrer Regierung als terroristische Vereinigung angesehen«, erklärte Leonello Gabrici, Sprecher der EU-Kommission. Seine Äußerung war die Reaktion auf den Wunsch Spaniens, die Partei Batasuna, der politische Flügel der baskischen Terrororganisation ETA, auf die Liste zu setzen.
Platz 10: Spanien - die ETA im Visier des Antiterrorkampfes
Zwar ließ die Regierung José Maria Aznar kein eigenes Antiterror-Gesetz vom Parlament verabschieden, doch der Regierungschef führte die Offensive auf europäischer Front an. Und er konnte seine Meinung teilweise durchsetzen. Sein Ziel war ein stärkerer Druck auf den Binnenterror, d.h. auf die ETA, im Rahmen einer globalen Antiterrorkampagne. So erreichte er, dass sich die 15 auf die höchst kontroverse gemeinsame Definition von Terrorismus verständigten und hinter seinem Vorschlag für den europäischen Haftbefehl versammelten. Übersetzung aus dem Französischen:Lilian-Astrid Geese
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