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Bosnien-Herzegowina: Frieden im Fluss

In der bosnischen Stadt Mostar gibt es noch immer ethnische Spannungen, die einen Aufbruch behindern

  • Benjamin Beutler, Mostar
  • Lesedauer: 8 Min.

Mostar ist eine Stadt, die den Krieg überlebt hat. Das sieht man bis heute. Zerhackte Häuserwände mit betongrau gealterten Pockennarben, in die Fassaden gerissen von Maschinengewehrsalven. Schlecht geflickte Artillerieeinschläge neben bepflanzten Balkonen, Brandspuren an Fenstern mit weißen Stickgardinen. Geisterfassaden vor sich hin schlafender Ruinen an der Marschall-Tito-Straße, die sich im Osten durch die 70 000 Einwohner zählende Stadt zieht. Die Spuren der Zerstörung sind in der sechstgrößten Stadt Bosnien-Herzegowinas mittlerweile eine makabre Touristensensation. Die Touren führen Besucher in Bunker, Ruinen und »andere bedeutende Stätten«. Der Guide schließt den 35-Euro-Rundgang ab, »indem er persönliche Erfahrungen des Krieges teilt«, bewirbt ein Anbieter sein Angebot.

Mostar ist eine Sehenswürdigkeit, an der niemand vorbeikommt, ohne ein ungutes Gefühl zu verspüren. Überall in dieser Postkartenstadt mit ihrem weltberühmten osmanischen Brückenbau Stary Most gibt es noch Überbleibsel von Gewalt und Zerstörung, die aus dem Krieg Anfang der 90er Jahre rühren. Ein Alptraum, der weiter schwer über dem schroffen Neretva-Flusstal hängt, das sich mit Palmen, Cafés und Mittelmeer-Klima wie eine Oase durch die Gebirgszüge von Velež und Čabulja zieht.

»Das da? Das ist ein richtiger Held, das ist ein richtig Guter«, erklärt mit Daumen nach oben und auf Englisch einer der vielen Schnickschnack-Verkäufer in der neu aufgebauten Altstadt. Er zeigt auf ein Graffito, das neben seinem Laden in der warmen Nachmittagssonne leuchtet. In Blau-Gelb und mit weißen Sternen, den heutigen Nationalfarben der einstigen jugoslawischen Teilrepublik, schaut im Comic-Stil »Mostar-Kommandant« Midhad Hujdur Hujka wie ein Schutzheiliger auf die Touristen herab, die in kleinen Gruppen durch die mittelalterliche Kulisse schlendern.

Die Geschichte von Hujka ist die Geschichte von Mostar. Und die der meisten Bosnier auf dem Westbalkan. Winter 1991. Titos Jugoslawien der vielen Völker ist gerade dabei, in Höchstgeschwindigkeit auseinanderzubrechen. Der gebürtige Mostarer meldet sich bei der Polizeistation seines Viertels zur freiwilligen Territorialverteidigung. Nur drei Monate später, im Frühling 1992, stimmt eine überwältigende Mehrheit für einen eigenen Staat: Bosnien-Herzegowina. Die bosnischen Serben aber bleiben Belgrad loyal, boykottieren den Urnengang, stellen sich gegen die internationale Anerkennung der neuen Republik. Statt friedlicher Koexistenz rufen sie unterstützt von Belgrad auf dem Gebiet des jungen Staates ihre eigene »Republica Srpska« aus. Greifen zu den Waffen und machen Jagd auf alles Bosnische. Sarajevo, Srebrenica, Mostar, das Blutbad des Bosnien-Krieges nimmt seinen Lauf.

Hujka muss eine böse Vorahnung gehabt haben. Die Verteidigung seiner Geburtsstadt, seiner Kultur und seines Glaubens wurde schneller notwendig als befürchtet. Mit der Bildung der neuen Armee von Bosnien und Herzegowina steigt er rasch auf, wird Kommandeur der Ersten Mostar-Brigade. Hatten Kroaten und Bosnier zuvor noch gemeinsam die serbischen Angriffe und die Belagerung ihrer gemeinsamen Heimat Mostar zurückgeschlagen, werden auch sie zu Feinden. Dieses Mal ist es kroatischer Größenwahn, der einen eigenen Staat im neuen Staat verlangt. Mostar, wo historisch viele bosnische Kroaten leben, soll Hauptstadt werden. Am grünen Tisch hatten sich Serbiens Präsident Slobodan Milosevic und sein kroatisches Pendant Franjo Tudjman längst geeinigt, das junge Bosnien-Herzegowina unter sich aufzuteilen. Die Bosnier, das seien Kroaten, Serben oder beides, die zu Zeiten des Osmanischen Reiches zum Islam übergelaufen seien. Also Volksverräter, lautet die historisch längst widerlegte These, womit den muslimischen Bosniern ihre nationale Selbstbestimmung abgesprochen und jede Gnade verwehrt wird.

In mehreren Landesteilen werden Bosnier von Kroaten aus ihrer Heimat vertrieben. Zivilisten gefoltert, Wehrfähige in Lager gesteckt, Frauen vergewaltigt. Moscheen und historische Kulturstätten werden gezielt zerstört. Gegen Bosnier wird Hetze verbreitet, sie seien kopfabhackende Gotteskrieger, planten die Auslöschung der Christen. Vom Sommer 1993 bis zum Frühling 1994 lässt der Kroatische Verteidigungsrat HVO, die Armee der kroatischen De-Facto-Republik Herceg-Bosna, niemanden mehr in die bosnisch-muslimisch bewohnte Altstadt von Mostar hinein. Und niemanden hinaus. Das Ziel ist die Auslöschung. Von den Hügeln über der Stadt erschießen kroatische Scharfschützen bosnische Frauen beim Wasserholen, Ärzte auf dem Weg ins Krankenhaus, Kinder beim Spielen. Das Trinkwasser ist abgestellt, die eingeschlossenen Menschen trinken aus selbst gebohrten Brunnen und dem Fluss. Hunger und Krankheiten machen sich breit. Aus sicherer Entfernung ins Visier des Zielfernrohr genommen, werden die bosnischen Altstadtbewohner zu Freiwild. Doch Hujka und die anderen leisten Widerstand.

Nach Tagen des Bombardements fallen schließlich die letzten Steinreste der Mostar-Brücke, durch die das Weltkulturerbe noch zusammengehalten wird, endgültig in sich zusammen. Mit einem lauten Knall des letzten Artillerietreffers und viel Staub rauscht an diesem Tag nicht nur eine einfache Brücke in die türkis-milchige Neretva. Die Brücke von Mostar, jahrhundertealtes Sinnbild für die Begegnung von Ost und West, von Islam und Christentum, steht wie kaum ein anderes Bauwerk für den Irrsinn der Balkankriege. Die Bilder gehen um die Welt. Hujka stirbt am 30. Juni 1993 beim Kampf gegen HVO-Einheiten zur Durchbrechung der Mostar-Blockade im Norden der Stadt. Der Familienvater wird 40 Jahre alt. Sein Marmorgrabstein auf dem islamischen Sehitluci-Friedhof für die Verteidiger Mostars steht nur fünf Minuten Fußweg von der alten Brücke entfernt.

Heute ist die alte Brücke wieder aufgebaut. Wie eh und je springen junge Männer für ein paar Euro und ein Foto in die Tiefe. Immerhin fast 20 Meter. »Nein, die Teilung der Stadt, die gibt es nicht, das ist eine Erfindung der Medien«, versichern nicht wenige Einheimische, die zum Zustand der Nachkriegsstadt gefragt werden. Doch dass es seit den »ethnischen Säuberungen« bosnische Stadtteile und kroatische Stadtteile gibt, die Kinder auf unterschiedliche Schulen gehen, dass kaum zwischen den Volksgruppen geheiratet wird, die beiden Fußballclubs der Stadt in kroatisches und bosnisches Publikum getrennt sind, die Stadtpolitik weiter entlang ethnischer Linien betrieben wird und die Aufarbeitung des Bürgerkriegs nur schleppend vorangeht sowie alte Rivalitäten neu befeuert werden – all das ist schwer wegzulächeln.

»Einige Familienmitglieder von mir sind im Krieg gestorben, einige verwundet, andere sind ins Exil«, erinnert sich Almir. Der 58 Jahre alte Ingenieur aus Mostar vermietet heute Zimmer. »Ich möchte nicht so gerne darüber reden.« Nur so viel: Vor dem Krieg habe man »wie Brüder zusammengelebt«. Dann aber sei der Nationalismus gekommen. Und der sei bis heute nicht gegangen. Kurz nach dem Krieg habe er noch gedacht, dieses Gift würde schwächer, nach all dem Grauen. »Aber es ist wieder stärker geworden, wir sind sehr verletzlich«, kommentiert der freundliche Mann, der mindestens zehn Jahre älter aussieht, die Gegenwart.

Tatsächlich ist der EU-Beitrittskandidat erneut zum Spielball geworden. In Serbien zieht Präsident Aleksandar Vučić ohne Scham vor den Kriegsverbrechen seiner Landsleute die nationalistische Karte und unterstützt Pläne einer autonomen Republica Srbska und eine Loslösung von Bosnien-Herzegowina. Auf Russlands Solidarität ist dabei Verlass, die ungezählten »Z«-Graffiti zur Unterstützung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und »Fuck the Nato«-Slogans auf der Durchfahrt nach Mostar sprechen Bände. Auch sind unzählige Ortsschilder und bosnische Wegweiser mit kyrillisch-serbischen Buchstaben überpinselt.

In Kroatien warnen Beobachter vor einer gefährliche Re-Tudjmanisierung samt wachsender Einmischung in das politische Geschehen des Nachbarlands. Das 1995 im umstrittenen Friedensabkommen von Dayton festgelegte Wahlrecht in Bosnien-Herzegowina ist undemokratisch; zur Herstellung eines ethnischen Gleichgewichts bevorzugt es Bosnier, Kroaten und Serben, schließt aber Gruppen wie Juden, Roma und andere Minderheiten von der Demokratie aus. Zagreb, das sich über die völkische Schwesterpartei der aktuellen Regierungspartei HDZ direkten Einfluss in Bosnien-Herzegowina verschafft, will auf diese Privilegien nicht verzichten. Dabei haben mehrere Gerichte die Ethno-Demokratie als Diskriminierung verworfen. Und dass Serbien für diesen Regional-Imperialismus mitten in Europa zunehmend Unterstützung aus dem Kreml kommt, ist kaum verwunderlich.

Auch der von den Vereinten Nationen eingesetzte Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina treibt ein Spiel mit dem völkischen Feuer. Der deutsche CSU-Politiker Christian Schmidt, der in Sarajevo seit Dayton mit direkter Regierungsgewalt ausgestattet ist, greift regelmäßig in die Politik ein. Auch die USA und die EU wünschen sich eine weitere »ethnische Entmischung«. Durch ein Entgegenkommen erhoffen sie sich Frieden mit den aggressiven Nationalisten. »Ausländische Mächte bestimmen über unser Schicksal«, weiß Almir. Er sagt aber auch: »Wenn ich die Eufor-Soldaten in den Straßen sehe, dann fühle ich mich sicherer, sie werden weiter gebraucht.«

Im Frisörladen »Ornament« wartet Editha. Mit vier Jahren war sie mit ihrer Familie nach München geflohen. Seit 26 Jahren lebt sie wieder in Mostar. »Gibt es den Müller-Milchreis noch, der ist so lecker«, erinnert sie sich an den Kindergarten. Wie schnell sie Deutsch lernte. »Mit den Leuten von der anderen Seite gibt es keine Probleme«, versichert sie und schmeißt den Haarschneider an. Wenn die Katholiken Feiertage haben, dann kommen die Kroaten »auf diese Seite« und freuen sich über die offenen Geschäfte bei den Moslems. »Sie sagen, das ist das einzig Gute an der Situation.« Es sei die Politik, die die Menschen in Mostar trennt, ist sie sich sicher. Der kroatische Bürgermeister würde vor allem auf seiner Seite investieren, darum sehe man im Osten auch noch mehr Ruinen als im Westen. Die bosnische Seite habe dagegen den Tourismus. »Das ist wie in der Familie, da streitet man auch ums Geld«. Überleben in Mostar sei heute zuallererst ein Geldproblem, meint Editha, die das Sprechen auf Deutsch sichtlich genießt. Die Pandemie: eine »Katastrophe«, weil es keine Hilfe vom Staat gab. Wie der Krieg hatte auch diese Krise »nur einige wenige Gewinner«. Das Leben: »schwer«, weil die Preise fast so hoch wie in Deutschland sind. Der Durchschnittslohn aber nur 560 Euro beträgt.

Trotzdem gehen die Bosnier in Mostar 30 Jahre nach Kriegsende in Mostar ihren Alltagsgeschäften nach und blicken nach vorne. Man hofft auf einen dauerhaften Frieden. »Wir können vergeben, was geschehen ist«, hatte Almir seine Erinnerungen an die dunkle Zeit beendet: »Aber wir können nicht vergessen.«

Eufor-Soldaten sind noch immer in Mostar, um für Sicherheit zu sorgen.
Eufor-Soldaten sind noch immer in Mostar, um für Sicherheit zu sorgen.
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