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Bundesregierung soll EU-Asylreform ablehnen, fordern Experten
Fachleute aus Recht, Migrationsforschung und Sozialpolitik fordern die Bundesregierung auf, den Verschärfungen des Asylrechts nicht zuzustimmen
Einen Tag vor dem EU-Ratstreffen der Innenminister*innen in Brüssel am Donnerstag und Freitag hat auch der Rat für Migration die Bundesregierung dazu aufgerufen, dem Entwurf der EU-Kommission über eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems nicht zuzustimmen. Darin vertreten sind fast 200 Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Disziplinen, die zu Migration und Integration forschen. »Besser keine Reform als eine, die Probleme verschärft«, sagte Vassilis Tsianos, Vorsitzender des Gremiums, am Mittwoch in Berlin und widerspricht damit dem Credo der Bundesregierung. Er kritisiert, die Debatte würde »kontrafaktisch« geführt: »Es wird so getan, als befände sich die Europäische Union in einem Ausnahmezustand. Dabei haben wir eigentlich eine sehr entspannte Konsolidierungsphase der Migrationsbewegungen.«
Seit Ende April öffentlich wurde, dass die Bundesregierung entgegen ihrer bisherigen Position Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen unter haftähnlichen Bedingungen zustimmen will, hatten über 60 Menschenrechtsorganisationen vor einer weitgehenden Abschaffung des Flüchtlingsschutzes gewarnt, darunter Pro Asyl, Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen, rund 800 Anwält*innen vom Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV), Diakonie Deutschland und Brot für die Welt. 100 prominente Einzelpersonen schlossen sich in einem offenen Brief den Bedenken an.
Im Fokus der Kritik stehen die verpflichtenden Grenzverfahren unter Haftbedingungen, die Ausweitung der sicheren Drittstaaten und eine Verschärfung des Dublin-Systems. Es wird befürchtet, dass Asylsuchende künftig ohne eine Prüfung ihrer individuellen Fluchtgründe – wie in der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehen – in einen angeblich sicheren Drittstaat abgeschoben werden könnten. Statt eines solidarischen Systems benachteilige das Vorhaben weiterhin die Staaten an den EU-Außengrenzen. Diese hätten demnach keinen Anreiz, Geflüchtete gut unterzubringen und faire Asylverfahren durchzuführen. Dabei habe es mehrere wissenschaftliche Projekte im Auftrag der Europäischen Union gegeben, die nachweisbar realisierbare Entwürfe für eine Reform des Asylsystems geliefert hätten. Doch diese würden nicht umgesetzt, kritisiert der Rat für Migration. »Die Ideologie des Dublin-Systems ist nahezu unerschütterlich, besonders in Deutschland«, sagt der Vorsitzende Vassilis Tsianos.
Kritik kam auch aus den Parteien selbst: Am Dienstag hatten 730 Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen ihre Parteispitze aufgefordert, »den Pfad zur Zustimmung der Asylverfahrensverordnung zu verlassen«. In die gleiche Richtung ging eine Stellungnahme von 31 Abgeordneten aus Grünen und SPD, die mit Brand New Bundestag assoziiert sind. Scharfe Kritik kam von der Linkspartei. In einer gemeinsamen Erklärung forderten ihre fluchtpolitischen Sprecher*innen die Bundesregierung zu einer Ablehnung der Reform auf: »Ja – die europäische Asylpolitik muss grundlegend neu ausgerichtet werden. Dabei müssen aber die Menschenrechte der Schutzsuchenden im Mittelpunkt stehen und nicht rechte Träume von einer totalen Abschottung der Festung Europas«, heißt es dort.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verteidigte die Position der Bundesregierung: »Selbst wenn ich selber Grenzverfahren nicht für die richtige Option halte, sind diese Gespräche über Grenzverfahren die einzige Möglichkeit, derzeit in einer sehr heterogenen Europäischen Union zu einer gerechten Verteilung von Geflüchteten zu kommen«, sagte sie. Die FDP appellierte an die Grünen, eine mögliche Einigung auf eine gemeinsame europäische Asylpolitik nicht zu blockieren. Die Chance für eine Reform diese Woche müsse unbedingt genutzt werden, sagte der innenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle.
»Während der Corona-Pandemie hat sich die Bundesregierung dafür ausgesprochen, auf die Wissenschaft und Expert*innen zu hören. Zahlreiche Wissenschaftler*innen und Menschenrechtsorganisationen sprechen sich nun gegen die Aushöhlung des Asylrechts aus – und sie werden ignoriert«, kritisiert Tareq Alaows von Pro Asyl im Gespräch mit »nd«.
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