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Grenzverfahren in der EU: Haft statt Sicherheit
Grenzverfahren könnten die Entstehung europaweiter Morias zur Folge haben
Keine Camps wie Moria mehr» – das hatte die EU-Komissarin für Inneres, Ylva Johannson, angekündigt, nachdem das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos im September 2020 abgebrannt war. Fast drei Jahre später ist klar, was sie damit nicht gemeint hatte: dass Flüchtlinge menschenwürdig und dezentral untergebracht werden. Was die Innenminister*innen am Donnerstagabend beschlossen haben, bedeutet eine Ausweitung und Professionalisierung der Lagerstrukturen in der Europäischen Union. Sogenannte Grenzverfahren sollen für Menschen aus Ländern mit einer Schutzquote unter 20 Prozent verpflichtend werden, für Menschen aus anderen Ländern aber auch möglich. Dort soll faktisch unter Haftbedingungen geprüft werden, ob der Asylantrag als «unzulässig» abgelehnt werden kann, etwa weil die Person zuvor einen angeblich sicheren Drittstaat passiert hat.
Griechenland wendet schon jetzt solche Grenzverfahren an, in denen die individuellen Fluchtgründe nicht wie in einem regulären Asylverfahren geprüft werden. Seit 2021 gilt die Türkei dort für Schutzsuchende aus Afghanistan, Syrien, Somalia, Pakistan und Bangladesch als «sicher». Asylanträge von Menschen aus diesen Ländern werden als unzulässig abgelehnt. Weil die Türkei wiederum eine Rücknahme verweigert, können Abschiebungen nicht erfolgen. Die Menschen verbleiben dann ohne Perspektive in griechischen Lagern oder werden obdachlos. Auch Polen inhaftiert Menschen, die über Belarus einreisen und keine ukrainische Staatsbürgerschaft haben, systematisch. In beiden Fällen bleiben die Menschen über Monate und Jahre rechtlos. Dies könnte nach der Einigung der EU-Minister*innen EU-weit der Fall sein. Will die EU Rückführungen durchsetzen, wird sie Staaten wie der Türkei voraussichtlich weiter große Mengen Geld geben müssen.
Verfahren auch an deutschen Flughäfen
Auf den griechischen Inseln Kos, Samos und Leros sind bereits in den vergangenen Jahren von der EU finanzierte sogenannte Closed Controlled Access Centres (CCAC, Geschlossene Zentren für den kontrollierten Zugang) entstanden, wo sich Geflüchtete nur begrenzt frei bewegen können und der Zugang zu rechtlichem Beistand und medizinischer Versorgung extrem eingeschränkt ist. Menschenrechtler*innen sehen die Verfahren in der Ägäis als eine Art Testballon für die kommenden Verschärfungen. «Viele Geflüchtete haben schlimme Erfahrungen gemacht, besonders mit Polizei und Armee», sagt Cornelia Ernst, asyl- und migrationspolitische Sprecherin der Linken im Europaparlament, die Lager auf Samos und Lesbos besucht hat. Die Unterbringung sei retraumatisierend, ähnele den Bedingungen in Haft. Dadurch nähmen psychische Erkrankungen «deutlich zu, ebenso wie die Gefahr von aggressiven Ausbrüchen», so Ernst.
Deutschland müsste künftig zumindest an den Flughäfen Grenzverfahren durchführen. Schon jetzt können Asylsuchende, die über den Luftweg einreisen und sich nicht mit einem gültigen Pass ausweisen können oder aus einem sogenannten sicheren Herkunftsstaat kommen, für die Dauer eines Flughafenverfahrens 19 Tage inhaftiert werden. Künftig wären drei Monate erlaubt. Expert*innen zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit dieser geplanten EU-Vorgabe.
Warnung vor neuen Tragödien
Tareq Alaows, fluchtpolitischer Sprecher der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, fürchtet, «dass es Morias in Deutschland geben wird». Die Bundesregierung sage zwar, sie wolle keine Lager in Deutschland. «Aber mit der neuen Verordnung wird genau das möglich gemacht. Eine andere Regierung könnte solche Lager ohne eine Abstimmung im Bundestag einrichten», so Alaows im Gespräch mit «nd». Je nach finaler Fassung und Auslegung der Verordnung könnte es sein, dass Personen, die über den Landweg nach Deutschland kommen und zuvor in keinem EU-Staat registriert wurden, für Grenzverfahren inhaftiert werden. Dies könne auch für Menschen gelten, die aus Seenot gerettet im sogenannten Relocation-Verfahren nach Deutschland kommen. Zugleich brächten Grenzverfahren Kommunen und Ländern keine Entlastung, sagt Allaows: «Für die Verwaltung sind solche Grenzverfahren ein enormer finanzieller und personeller Aufwand.»
Pro Asyl warnt außerdem davor, dass es wieder zu Tragödien wie jener 2015 im österreichischen Parndorf kommen könnte. Damals wurden 71 Menschen aus Afghanistan, Irak, Iran und Syrien tot in einem Kühllastwagen gefunden, die versucht hatten, in diesem von Ungarn nach Österreich zu kommen. «Menschen werden alles versuchen, um nicht inhaftiert zu werden», sagt Alaows.
Die Bundesregierung hatte vor den EU-Verhandlungen stets betont, sie werde sich dafür einsetzen, dass Kinder und besonders gefährdete Personen nicht in gefängnisartigen Strukturen untergebracht werden. Doch das wurde mit großer Mehrheit abgelehnt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach anschließend von einem «bitteren Kompromiss» – und verwies auf eine von ihr initiierte Protokollnotiz, der sich Irland, Luxemburg und Portugal angeschlossen hätten. Darin weisen die Länder darauf hin, dass ihnen «Ausnahmen vom Grenzverfahren für Minderjährige und ihre Familienangehörigen sehr wichtig bleiben». In den Trilog-Verhandlungen, bei denen Mitgliedstaaten, EU-Parlament und -Kommission die Ausgestaltung des Kompromisses diskutieren werden, wolle man sich «weiter dafür einsetzen».
Wissenschaftler*innen warnten jüngst, der Zugang zu einem bestimmten Recht dürfe nicht davon abhängig sein, wer es «verdient, als vulnerabel zu gelten». Generell empfehlen die an dem von der EU finanzierten Forschungsprojekt «Vulner» Beteiligten, Geflüchtete so wenig Zeit wie möglich in Lagerstrukturen verbringen zu lassen. Denn: «Das Zusammenleben mit vielen traumatisierten Menschen führt zu Spannungen und Konflikten, schafft neue Vulnerabilitäten und verschlimmert bestehende.»
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