Asyl in der EU: Lagerhaft und Kopfgeld

Die EU-Innenminister haben sich auf eine Verschärfung der gemeinsamen Asylpolitik geeinigt

  • Fabian Lambeck, Brüssel
  • Lesedauer: 5 Min.

Sie konnten ihr Glück selbst nicht fassen: Sichtlich erschöpft saßen EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und die schwedische Migrationsministerin Maria Stenergard am Donnerstagabend in der Pressekonferenz vor ebenso müden Journalist*innen. Die Verhandlungen der EU-Innenminister in Luxemburg hatten sich fast zwölf Stunden hingezogen. »Wir haben eine Vereinbarung«, freute sich die EU-Kommissarin über den gefundenen Kompromiss zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Zuvor hatte sie noch schnell ihr Beileid für die Opfer eines Messerstechers in Frankreich bekundet. Dass der Täter ein syrischer Flüchtling ist, passte wohl ganz gut ins Narrativ der Kommissarin, die auf der Pressekonferenz in Luxemburg verkündete, dass demnächst weniger Geflüchtete nach Europa gelangen sollen. Das Glück der beiden schwedischen Politikerinnen ist also das Unglück der Schutzsuchenden.

Zukünftig sollen Asylverfahren von Menschen mit »geringen Erfolgsaussichten« bereits in Grenzlagern stattfinden, um sie schnell wieder abschieben zu können. Menschen aus als sicher geltenden Staaten wie der Türkei werden also unter haftähnlichen Bedingungen auf ihren Asylbescheid warten müssen. Innerhalb von zwölf Wochen soll dann geprüft werden, ob die Antragsteller*innen Chancen auf Asyl haben. Das gilt fortan auch für Familien mit Kindern, die ebenfalls inhaftiert werden sollen. Deutschland hatte sich bei den Verhandlungen mit seiner Forderung nach Ausnahmen für Familien mit kleinen Kindern nicht durchsetzen können. Hier zeigten sich auch die realen Mehrheitsverhältnisse unter den 27 EU-Mitgliedsstaaten: Nur Deutschland, Portugal, Irland und Luxemburg waren dafür, Ausnahmen für Minderjährige und ihre Familienangehörigen zu machen.

Dass es schwer werden wird, die anvisierte Zwölf-Wochen-Frist einzuhalten, zeigt ein Blick auf die Zahlen: Laut UN-Flüchtlingskommissariat wurden allein in Italien in diesem Jahr mehr als 50 000 Migrant*innen registriert, die über das Mittelmeer gekommen waren, die meisten von ihnen aus Ägypten, Tunesien und Bangladesch – sie hatten somit kaum Aussichten auf Asyl. Die Lager müssten also entsprechende Dimensionen haben und Tausende gleichzeitig aufnehmen können. Dass Menschen, die ihr Leben bei der gefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer riskiert haben und die gesamten Ersparnisse ihrer Familien an Schlepper zahlen mussten, den Ablehnungsbescheid einfach akzeptieren werden und sich widerstandslos abschieben lassen, glaubt wohl auch nur die deutsche Innenministerin. Spätestens wenn den Insassen klar wird, dass sie in einem riesigen Abschiebelager sitzen, dürfte es Spannungen geben.

Nancy Faeser (SPD) freute sich trotzdem über diesen »historischen Erfolg« und wollte in der Einigung gar »eine neue, solidarische Migrationspolitik« erkennen. Diese Sicht teilen nicht alle. Für Janine Wissler, Ko-Vorsitzende der Linken, ist der Beschluss »ein Erfolg für die rechten Kräfte in ganz Europa und wird sie weiter stärken. Diese Lehre sollte man gezogen haben aus der Debatte um den Asylkompromiss 1993 und die damalige Welle rechter Gewalt.« Besonders brisant ist der Protest vom grünen Koalitionspartner. So sagte Rasmus Andresen, Sprecher der Grünen im EU-Parlament: »Es ist beschämend, dass auch die deutsche Innenministerin Nancy Faeser mit Zustimmung der Ampel-Koalition diesem Vorschlag zugestimmt hat. Dieses Ergebnis stößt bei uns auf entschiedene Ablehnung.« Eine klare Breitseite gegen die eigene Partei in Berlin, die diesen Kompromiss mittragen wird, wie Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck bereits erklärten. Auch der Ko-Vorsitzende der Grünen, Omid Nouripour, wiegelte ab und sprach mit Blick auf die Inhaftierung von Familien von einer »Auslegungssache«. Seine Ko-Chefin Ricarda Lang hingegen betonte, dass Deutschland dem Vorschlag zur GEAS-Reform »nicht hätte zustimmen dürfen«.

Den Grünen stehen also ungemütliche Zeiten bevor. Denn das Thema bleibt auf dem Tisch, schließlich muss der Rat mit dem EU-Parlament in der Sache verhandeln. Ein Ergebnis soll bis Ende des Jahres vorliegen. Der Innenausschuss des Parlaments hatte sich bereits im April auf eine gemeinsame Verhandlungsposition festgelegt. Die Linke-Abgeordnete Cornelia Ernst meinte damals schon, diese Position werde das »Ende des Rechts auf Asyl einleiten«. Der Vorschlag des Parlaments sieht »schnellere und vereinfachte Verfahren für Asylanträge« vor, insbesondere für »Nationalitäten mit niedrigen Anerkennungsquoten«. Somit liegt man auf einer Wellenlänge mit dem Rat. Wer hofft, das Parlament werde die Vorschläge des Rats im Sinne der Geflüchteten entschärfen, könnte enttäuscht werden.

Diskussionen wird es bei den anstehenden Verhandlungen aber trotzdem geben, denn die Einigung der EU-Innenminister umfasst noch weitere, hoch umstrittene Punkte. So stimmte eine Mehrheit im Rat für verpflichtende Solidarität mit den Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen. Demnach sollen Länder wie Ungarn und Polen, die keine Geflüchteten aufnehmen wollen, Ausgleichszahlungen leisten. Mit einem Kopfgeld von rund 20 000 Euro pro Flüchtling soll sich Viktor Orbán freikaufen können. Die Ungarn stimmten im Rat trotzdem gegen den Vorschlag.

Natürlich hat diese Art von Menschenhandel nichts mit Solidarität zu tun. Vielmehr hofft man, dass die von der Migration besonders stark betroffenen Staaten wie Griechenland die Neuankömmlinge nicht einfach in andere EU-Staaten weiterziehen lassen. Eigentlich ist das nach der »Dublin-Verordnung« auch nicht erlaubt. Asylbewerber sollen demnach dort registriert werden, wo sie die EU zuerst betreten haben. Somit wäre im Beispiel Griechenland dann für die Asylanträge zuständig. In der Praxis funktioniert das System schon lange nicht mehr, spätestens seit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 ist es kaputt. Immer wieder hatten Staaten wie Österreich und Deutschland aus diesem Grund Grenzkontrollen eingeführt, um Einreisen von Geflüchteten zu erschweren. Die Bundesinnenministerin warnte deshalb, bei einem Scheitern der Reform sei »der Schengen-Raum in Gefahr«.

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