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- Jan Jelinek: »Seascape – polyptych«
Wo der Wal zu finden ist
Wie macht man aus »Moby Dick« Musik? Jan Jelineks Album »Seascape – polyptych«
Wo ist der weiße Wal? Er muss gefunden, gejagt und getötet werden – das ist der Wille von Kapitän Ahab, der einst im vergeblichen Kampf mit ihm sein linkes Bein verlor und seitdem mit einer Prothese über das Deck seines Walfängers »Pequod« humpelt. Ahab will Rache und führt sich und seine Mannschaft in den Tod, denn Moby Dick, der weiße Pottwal, erweist sich als unbesiegbar.
In »Moby Dick«, John Hustons mitreißender Verfilmung des Romans von Herman Melville von 1956, sieht man in einer Szene Ahab, der von Gregory Peck gespielt wird, an einem Tisch über Seekarten gebeugt. Um Moby Dick zu finden, hat er ein geografisches System ersonnen, mit dem er bestimmen kann, wann und wo Moby Dick auftauchen wird: »im April bei Neumond«, östlich von Japan.
Der Berliner Musiker und Produzent Jan Jelinek hat für sein neues Album »Seascape – polyptych« ein Set-up entwickelt, mit dem man Musik in Ahabs Wahnsinn finden kann. Und zwar nicht in dem, was er sagt, sondern wie er es sagt: Aus Ahabs Monologen und Ansprachen hat Jelinek Tracks gebaut, indem er Gregory Pecks Stimme elektronisch umgewandelt hat. Mit einem modularen System steuert er über die Veränderungen der Tonhöhe und der Lautstärke in Ahabs Redefluss Synthesizer an, die daraus neue Klänge produzieren. Mit Algorithmen werden hier also rein synthetisch akustische Phänomene nachgebildet.
Jan Jelinek kam darauf, weil Ahab in der ersten Hälfte des Films nicht zu sehen ist. Er ist nur Gerücht und Gespenst, ähnlich wie lange Zeit Moby Dick. Der Matrose Ismael (Richard Basehart), aus dessen Perspektive der Film erzählt wird, hört nachts in seiner Koje nur ein Klopfen an Deck. Es ist das Geräusch des aus den Kiefernknochen eines Pottwals gefertigten Holzbeins, mit dem Ahab herumhinkt, weil er keinen Schlaf finden kann. »Es ist das einzige akustische Signal, das auf den Kapitän verweist – diese Idee wollte ich weiterspinnen«, erzählt Jelinek, »und Ahabs manische Monologe, mit denen er seine Mannschaft ins Unglück stürzt, wieder in Klopfzeichen oder abstrakte Signale umwandeln.«
Ahab ist eine dunkle Figur, die auch bei schönstem Sonnenschein auf dem Meer trübe Sätze raunt: »Der lachende Himmel über der unberechenbaren See. Schau in die Tiefe, und du siehst ein ewig währendes Gemetzel.« Beständig putscht er seine Mannschaft auf, die nur noch von einem Ziel durchdrungen sein soll: Moby Dick zu töten. Ahab ist von den eigenen Dämonen getrieben und nicht mehr richtig ansprechbar – ein früher Verwandter von Michael Corleone (Al Pacino) oder Colonel Kurtz (Marlon Brando) in den verstörenden Filmen »Der Pate 2« und »Apocalypse Now« über Mafia und Vietnam-Krieg von Francis Ford Coppola.
Jelineks Tracks sind betitelt nach den Szenenanweisungen aus dem Drehbuch, das der Science-Fiction-Schriftsteller Ray Bradbury für »Moby Dick« schrieb: Sie heißen »Waiting and watching« (Warten und beobachten), »It moves swiftly forward, throwing up great waves« (Es bewegt sich schnell vorwärts und wirft dabei große Wellen auf) oder »Drawn toward the whirlpool’s center« (In die Mitte des Strudels gezogen), ohne sich allerdings auf diese Szenen zu beziehen oder diese zu bebildern. Und doch sind sie der Soundtrack zu »Seascape – polyptych«, einer filmischen Arbeit des kanadischen Medienkünstlers Clive Holden. Er hat Szenen aus Hustons Film farblich und dynamisch bearbeitet und zeigt sie jeweils in sechs Bildfenstern, die paarweise übereinander angeordnet sind und minimal variieren. Ein Ausschnitt ist auf der Website von Jelinek zu sehen. Clive Holden hat diese Bilder für eine spezielle Kunst-App entwickelt, die er aber noch nicht auf den Markt gebracht hat.
In seinen Fenstern sieht man Moby Dick auftauchen, Wellen, Menschen im Hafen und die Seeleute in den Fluten schwimmen, nachdem Moby Dick ihre Walfangboote gerammt hat. Wer den Film kennt, weiß, sie werden allesamt ertrinken, bis auf einen: Ismael, der sich an einen Sarg klammern kann – eine makabere Pointe. Diesen Sarg hat sich sein Freund, der indigene Harpunier Queequeg (Friedrich von Ledebur), während der Reise auf dem Schiff anfertigen lassen, weil er davon ausgeht, sterben zu müssen. Und so kommt es auch.
Weder der Sarg noch Kapitän Ahab sind bei Clive Holden zu sehen. Der ursprüngliche Arbeitstitel für dieses Projekt war »Soul Survivor« – »Seascape« trifft es besser. Soundscapes als Seascapes: abstrakte Musik zu fragmentarisierten Meeresfilm-Szenen. Das korrespondiert mit den ästhetischen Absichten von John Huston, der für »Moby Dick« seinen Kameramann Oswald Morris anwies, grobkörnige, verwaschene Bilder zu filmen, die an die Seefahrtsmalerei des 19. Jahrhunderts erinnern sollten, an die Zeit, als 1851 der Roman von Herman Melville erschien.
Das Besondere an der App von Holden ist, dass die in einzelne Sequenzen zerlegten Szenen in den sechs Bildfenstern von einem Programm unterschiedlich angetriggert werden, sodass der Betrachter niemals dieselbe Auswahl sieht. Jelineks Musik dazu aber bleibt gleich. Bild und Ton ergeben hier eine gegenläufige Bewegung, wie ja auch Holden mit seinen bearbeiteten Szenen näher an Hustons Film ist als Jelineks abstrakte Rhythmisierung von Ahabs Stimme. Auf seinem Soundtrack-Album gibt es dann auch mehr Tracks als Szenenfolgen auf der App von Holden. Beide Künstler haben in der Pandemie-Zeit unabhängig voneinander gearbeitet und erst später ihre Ergebnisse zum gemeinsamen Kunstwerk kombiniert.
Hierfür wurde nur die zeitliche Länge der Bild- und Sound-Folgen aufeinander abgestimmt, mehr nicht. »Das Schicksal bestimmt den Kurs«, sagt Ahab im Film. Dennoch: Obwohl beides nebeneinander läuft, glaubt der Betrachter, beides würde sich aufeinander beziehen. In der Beobachtung entsteht in den Worten von Jelinek eine »halluzinatorische Synchronizität«, in der Annahme, das sei alles Absicht. So wie es im Film nur Ahab ist, der meint, es würde zwischen ihm und dem Wal eine Beziehung bestehen. Doch dem weißen Wal ist Ahab egal, er wehrt sich nur dagegen, gejagt zu werden.
Oswald Morris hat suggestiv gefilmt. Moby Dick ist nie in voller Größe, aber konstant in Bewegung zu sehen. In Wahrheit besteht er aus drei riesigen beweglichen Wal-Attrappen. Trotzdem sieht man erschüttert, wie Ahab von Moby Dick in die Tiefe gerissen wird. Als der Wal wieder auftaucht, winkt der tote Kapitän seiner Besatzung in den Booten zu: Seine Leiche ist eingeklemmt in den Fangseilen der Harpunen, die im Wal feststecken. Ahabs Arm wackelt, als würde er winken. Ganz so, wie es zu Beginn des Films ein verrückter christlicher Prophet Ismael und Queequeg prophezeit hat, als sie an Bord der »Pequod« gingen: »Der Tag wird kommen, wo wir Land sehen werden, wo keines ist. Und an diesem Tag wird Ahab sein Grab finden, doch er wird auferstehen und uns zuwinken. Und alle, bis auf einen, werden ihm folgen.«
Wenn man darauf achtet, ist Hustons Film sehr musikalisch. Die Besatzung der »Pequod« singt viel bei der Arbeit, Seemanslieder mit Vorsänger und Chor. Die eigentliche Filmmusik, die Philip Sainton komponiert hat und die nach Meinung der britischen Musikwissenschaft Einflüsse von Maurice Ravel, Frederick Delius und Vaughan Williams vereint, ist ziemlich langweilig. Nur wenn die Vögel über dem Meer dem abgetauchten Moby Dick folgen, ist sie interessant, da sie dann elektronisch und nicht wie sonst klassisch-orchestral erzeugt wird.
Ahab weiß Bescheid: Wo viele Möwen über dem Wasser fliegen, schwimmt unter Wasser der Wal, sagt er seinen Leuten. Und als sie zum Schluss in ihren Booten Moby Dick entgegenrudern, sitzen sie mit dem Rücken zum Wal. Sie können ihn nicht sehen, und Ahab sagt ihnen, was er sieht: einen Wal, so groß wie eine Insel.
Jelineks Tracks puckern, rauschen, knarzen und knistern. Man kann sie gut ohne die von Holden zerschnittenen Bilder hören, auch ohne Kenntnis des »Moby Dick«-Films oder -Buches. Wer aber die Beziehung kennt, weil er auf Jelineks Website davon gelesen hat, der meint das auch hören zu können. »Jeder, mit dem ich bisher darüber gesprochen habe, sagte mir, das klingt total ozeanisch oder aquarisch«, berichtet Jelinek, um die Macht der Imagination zu verdeutlichen, die ein Infotext erzeugen kann. Wären diese Tracks beispielsweise als Musik über Straßenverkehr definiert worden, würden die Menschen darin vermutlich den Flow von Autobahnfahrten oder den Stillstand an der Ampel erkennen.
Jelineks kompositorische Leistung ist das Erarbeiten eines Set-ups, eines Programms, das die kompositorischen Entscheidungen für ihn trifft. Er ist der Kurator dieser Klänge, der sie künstlerisch kontextualisiert. Ende der 90er Jahre wurde er mit abstrakter House Music bekannt. Als er 2001 sein bekanntes Album »Loop Finding Jazz Records« veröffentlichte, fragten ihn viele Leute, wo denn da der Jazz sei. Ein Kritiker schrieb, dass er das Luftholen beim Trompetenspiel gesampelt hätte. Das stimmte zwar nicht, hat aber Jan Jelinek sehr gut gefallen.
Jan Jelinek: »Seascape – polyptych« (Faitiche)
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