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»Unsere Abwesenheit macht die Flucht gefährlicher«
Carlotta Ekrod von der Hilfsorganisation Sea-Eye über die immer schwerer werdende Seenotrettung im Mittelmeer
Carlotta Ekrod, wie ist aktuell die Lage auf der »Sea-Eye 4«?
Wir sind im italienischen Hafen von Ortona festgesetzt. Für unsere letzte Mission haben wir als Strafe 20 Tage Verwaltungshaft bekommen. Während des Einsatzes haben wir ein Boot aus Seenot gerettet und sind dann noch einmal umgedreht, als wir auf dem Weg in den uns zugewiesenen Hafen waren, um noch ein weiteres Boot zu retten. Dafür wurden wir festgesetzt und müssen eine Strafe von 3333 Euro bezahlen. Der Grund für die Strafe ist ein neues, im Februar erlassenes italienisches Gesetz, das Seenotrettung kriminalisiert.
Carlotta Ekrod ist seit drei Jahren bei der Hilfsorganisation Sea-Eye aktiv und seit zwei Jahren Mitarbeiterin. Sie war lange für das Crew-Management verantwortlich und beschäftigt sich aktuell mit den Zukunftsperspektiven von Sea-Eye. Sie war selbst auf Mission und ist regelmäßig auf der »Sea-Eye 4«. Das Gespräch mit ihr hat Robin Jaspert an Bord des Schiffes geführt.
In der Nacht vom 13. auf den 14. Juni ist ein Schiff mit Menschen auf der Flucht an Bord vor der Küste Griechenlands gekentert. Laut Angaben der Menschen an Bord waren 750 Menschen auf dem Schiff, die Internationale Organisation für Migration spricht von 400. Nur 104 Personen konnten offenbar gerettet werden. Hängt diese Katastrophe mit der Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung zusammen?
Es ist furchtbar. Diese Katastrophen sind so häufig geworden, dass es kaum noch jemanden juckt. Durch die zunehmende Kriminalisierung und Diffamierung von Seenotrettung wird es immer schwieriger, unsere teure und komplexe Aufgabe zu bewältigen. Eine Aufgabe, die eigentlich von Staaten übernommen werden müsste. Griechenland, Malta und Italien kommen dieser Aufgabe aber nicht nach, und zudem hält Malta kommerzielle Schiffe sogar aktiv von der Rettung ab. Sie weisen sie unter Drohungen an, Seenotfälle zu ignorieren – das ist gesetzeswidrig und menschenverachtend. In diesem Fall vor der Peloponnes und auch in vielen anderen wussten sowohl die griechische Küstenwache als auch die EU-Grenzschutzbehörde Frontex von dem Seenotfall. Aber sie haben die Menschen sterben lassen.
Hinzu kommt, dass unsere Arbeit seit Jahren strukturell behindert wird. Früher wurden wir wegen ausgedachter Mängel an unseren Schiffen festgesetzt. Wir haben tage- und manchmal wochenlang auf einen sicheren Hafen gewartet. Die Zustände für alle an Bord waren oft unerträglich. Heute werden wir nach einer Rettung sofort aus dem Mittelmeer abgezogen und müssen weite Wege nach Norditalien zurücklegen. Es sind immer weniger Schiffe im Mittelmeer, um Menschen aus Seenot zu retten und in Sicherheit zu bringen. Momentan sind drei Schiffe festgesetzt und konnten deswegen nicht vor Ort sein. Andere Organisationen haben kein Geld mehr, um rauszufahren. Es besteht also ein direkter Zusammenhang zwischen der europäischen Politik und dem Tod der Menschen.
Wie ordnen Sie das Dekret in Italien ein?
Dass es jetzt ein Gesetz zur Kriminalisierung von Seenotrettungsschiffen und ihren Organisationen gibt, ist ein weiteres Symptom einer anhaltenden, immer schlimmer werdenden Kriminalisierung und Entmenschlichung von Menschen auf der Flucht. Wir haben schon erwartet, dass es mit der postfaschistischen Regierung von Giorgia Meloni weitere Repression gegen uns geben wird. Es ergibt allerdings keinen Sinn zu versuchen, Seenotrettung aufzuhalten. Die zivile Seenotrettung war 2022 an nur 11 Prozent der Ankünfte von Menschen auf der Flucht nach Europa beteiligt. Dass wir nicht mehr da sind, ändert nichts daran, dass Menschen über das Mittelmeer kommen, die unter anderem vor Verfolgung und Versklavung flüchten. Unsere Abwesenheit macht die Flucht nur gefährlicher. Uns zu kriminalisieren bedeutet einfach nur, dass noch mehr Menschen ertrinken werden. Wir werden so stark bekämpft, weil wir ein Symbol gegen die anhaltende Abschottungspolitik sind. Der Kampf gegen die Seenotrettung ist deswegen für Politker*innen vor allem eins: medienwirksam. Sie symbolisieren migrationspolitische Härte und fischen damit am rechten Rand.
Stichwort Abschottungspolitik: Vor knapp einem Jahr wurden in der spanischen Exklave Melilla mehrere Dutzend Menschen auf der Flucht von Grenzbeamten getötet, in Assamaka in Niger finden immer mehr Pushbacks in die Wüste statt. Es gibt die Abmachung mit der Türkei, gegen Geld keine Flüchtenden mehr durchzulassen, und den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. An der Grenze zwischen Belarus und Polen werden Menschen im Wald beziehungsweise zwischen Grenzmauern eingepfercht und ihrem Schicksal überlassen. Sind bald alle Grenzen dicht? Ist die Festung Europa bald fertig gebaut?
Ich würde sagen, ja. Wir sind sehr nah dran. Es ist nicht nur symbolisch so, dass wir in Europa immer mehr Zäune haben. Auch faktisch gibt es heute sechsmal mehr Grenzbefestigungen im Vergleich zu 2014. Frontex wird immer weiter ausgerüstet. Es gibt ein neues Vorhaben, Tunesien mit mindestens 900 Millionen Euro auszustatten – 100 Millionen davon sind explizit dafür vorgesehen, ein »Migrationsmanagement« zu etablieren. Am 11. Juni war die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, gemeinsam mit Italiens Ministerpräsidentin Meloni und Mark Rutte, dem Ministerpräsidenten der Niederlande, in Tunesien, um über die Details zu verhandeln.
Die sogenannte Ruanda-Lösung – Menschen auf der Flucht aufzuhalten und nach Afrika zu schicken – ist weiterhin im Gespräch. Libyen wird seit Jahren von der EU finanziert, um die sogenannte libysche Küstenwache auszustatten. Es ist keine echte Küstenwache. Ihre einzige Aufgabe ist es, Menschen, die in Libyen schweren Formen von Gewalt, oft sexualisierter, ausgesetzt sind, an der Flucht in ein vermeintlich sicheres Europa zu hindern. Das alles hat das Ziel, Menschen daran zu hindern, nach Europa zu kommen. Es ändert aber nichts daran, dass sie dennoch kommen. Diese rechte Politik der Abschottung und Ignoranz gibt es schon seit Jahren. An der Zahl der Menschen, die kommen, ändert sie nichts, sie verschlimmert nur ihre Erfahrungen auf dem Weg. Die Zustände auf den Fluchtrouten werden immer unhaltbarer. Die Festung Europa ist ein rechtes Narrativ, das immer weiter bedient und mit der Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems uneingeschränkt akzeptiert wird.
Was bedeutet die Reform des gemeinsamen europäischen Asylrechts für die zivile Seenotrettung und Menschen auf der Flucht?
Die geplante Gesetzesänderung ist ein direkter Angriff auf das Asylrecht. Rassismus wird durch die Veränderung des Gesetzes weiter institutionalisiert. Sie wird dafür sorgen, dass Fluchtrouten noch gefährlicher werden. Dass Menschen auf der Flucht insgesamt noch weniger Rechte haben und noch größerer Gefahr ausgesetzt sind, in illegalen Netzwerken zu landen und misshandelt und versklavt zu werden. Es fördert irreguläre Migration und wird am Ende für noch mehr Chaos und Qualen für Menschen auf der Flucht sorgen. Reform ist in dem Kontext ein lächerliches Wort. Es bedeutet ja eigentlich, dass etwas verbessert wird. Durch diese »Reform« wird aber nichts verbessert. Sie verschlimmert die Situation der Menschen auf der Flucht. Es ist eine Scheinlösung. Personen werden zukünftig noch häufiger inhaftiert werden. Das Gesetz etabliert die Fiktion der Nichteinreise. Menschen stehen auf europäischem Boden, aber sind rechtlich gesehen nicht in Europa. Die Zulässigkeit eines Asylantrags wird in einem Grenzverfahren geprüft, nicht aber der Asylantrag selbst. Darauf haben aber alle Menschen, die in der EU ankommen, ein Anrecht. Menschen auf der Flucht werden durch die »Reform« also weiter entrechtet.
Für die Seenotrettung müssen wir abwarten. Es wird insgesamt noch mehr Raum für die Akzeptanz faschistischer Positionen und Politik geschaffen. Auch was die Seenotrettung angeht. Insgesamt wird die »Reform« eine Kriminalisierung der Hilfe verstärken und zu mehr Akzeptanz für harte Maßnahmen gegen uns sorgen. Das wird unsere Arbeit erschweren.
Nach Ihrer Festsetzung haben Sie ein Hilfegesuch an das Auswärtige Amt und Annalena Baerbock gestellt. Gab es darauf schon eine Reaktion?
Nein, bisher hat niemand darauf reagiert.
Unterstützt die Bundesregierung Sie anderweitig?
Die Bundesregierung hat ja die Unterstützung der zivilen Seenotrettung in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben: »Die zivile Seenotrettung darf nicht behindert werden. Wir streben eine staatlich koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer an«, heißt es da. Zusätzlich hat der Bundestag dem Bündnis »United 4 Rescue«, das Seenotrettungsorganisationen unterstützt, 8 Millionen Euro Unterstützung über einen Zeitraum von vier Jahren zugesichert. »United 4 Rescue« würde dieses Geld für bessere Ausstattung und alles, was in der Seenotrettung notwendig ist, einsetzen. Bis heute ist dieses Geld aber nicht geflossen, und wir fragen uns, wo es bleibt, da wir es gerade jetzt sehr dringend bräuchten. In einer Recherche vom »Spiegel« wurde jetzt veröffentlicht, dass es politisch motiviert ist, das Geld nicht auszuzahlen, und nicht nur an der Bürokratie liegt. Es sollen nur Projekte an Land und nicht die Seenotrettung finanziert werden. Die Bundesregierung hat offensichtlich Angst, sich klar zu positionieren. Obwohl sie es in ihrem Koalitionsvertrag eigentlich schon getan hatte.
Welche Perspektiven hat die zivile Seenotrettung?
Für uns sieht es momentan ziemlich düster aus. Wir sind sehr besorgt. Die Spenden gehen immer weiter zurück, und vor allem für die zweite Jahreshälfte haben wir Sorge, dass wir unsere Missionen nicht fahren können. Wir sind uns momentan nicht sicher, wie wir das stemmen können. Aber Geld ist ein Problem, das gelöst werden kann. Das italienische Gesetz vom 24. Februar allerdings, hat weitreichende Folgen für uns. Die aktuelle Festsetzung der »Sea-Eye 4« ist die erste Phase im Rahmen des Dekrets. Die nächste Stufe wäre eine Festsetzung unseres Schiffs für sechs Monate und eine Strafe von bis zu 50 000 Euro. Wenn wir dann noch einmal festgesetzt werden, wird die »Sea-Eye 4« unbegrenzt in Verwaltungshaft genommen und kann faktisch nie wieder rausfahren. Wir verschwenden unsere Kapazitäten dann vor Gericht und können unserer Arbeit nicht nachgehen.
Was braucht es, um dieser gegenwärtigen Situation entgegenzusteuern?
Sichere Fluchtwege sind nötig, das steht außer Frage. Migration wird in der EU jedoch als sicherheitspolitisches Thema inszeniert. Geflüchtete Menschen sind aber keine Bedrohung für uns. Nur durch dieses Theater kann die EU immer repressivere und gewalttätigere Maßnahmen gegen Flüchtende sowie Menschen und Organisationen, die sich mit ihnen solidarisieren, durchsetzen. Diese Kriminalisierung muss enden, und es braucht EU-Staaten, die mit einem positiven Beispiel vorangehen und zeigen, dass Menschlichkeit und Solidarität der einzig richtige Weg sind.
Wie geht es mit der »Sea-Eye 4« weiter?
Wir klagen gegen das italienische Gesetz. Wir wollen, dass es aufgehoben wird. Es ist ein Gesetz, das es so aussehen lässt, als wäre die Arbeit, die wir machen, unrechtmäßig. Dabei ist es nach internationalem Seerecht die Pflicht eines jeden Landes und eines jeden Schiffes, Menschen in Seenot zu retten. Das Gesetz hat das Potenzial, die Akzeptanz der italienischen und europäischen Bevölkerung für immer brutalere Maßnahmen gegen uns und Menschen auf der Flucht zu erhöhen. Das können wir so nicht stehenlassen. Deswegen wehren wir uns dagegen.
Sobald wir freikommen, werden wir in einen anderen Hafen fahren, in dem wir unsere Infrastruktur haben und alles für die nächste Mission vorbereiten können – um weiter gegen die Abschottungspolitik zu kämpfen und Menschen auf der Flucht einen sicheren Hafen zu bieten.
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