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Absturz im Gewächshaus
Glück im Unglück: Bei der Kollision zweier DDR-Jagdflugzeuge über Dresden vor 50 Jahren blieb die große Katastrophe aus
Als Karl-Heinz Barche an jenem Samstagnachmittag in Weinböhla aus dem Wald trat, traf er auf einen Mann, der sein Auto putzte. Dieser schaute ihn entgeistert an und fragte: »Wo kommen sie denn her?!« Barche, bekleidet mit der Fliegerkombi der NVA-Jagdflieger und in einem etwas aufgelösten Zustand, zeigte in den Himmel über dem Elbtal: »Von da oben.« Der Mann fragte: »Und wo liegt es?« Barche wies in den Wald, was allerdings nur mit Blick auf seinen Schleudersitz und den Fallschirm korrekt war. Sein Flugzeug, das am 23. Juni 1973 um 15:02 Uhr im Luftraum nördlich von Dresden von einer anderen Maschine gestreift wurde, woraufhin beide abstürzten, war an anderer Stelle in dem extrem dicht besiedelten Gebiet niedergegangen: in einer Gärtnerei in Coswig. Es habe, so wird später im Untersuchungsbericht zu lesen sein, »erhebliche Sachschäden an Gewächshäusern und Kulturen« gegeben. Tomaten und Gurken waren futsch, Tote aber gab es nicht. »Wir hatten oft Glück«, sagt Barche.
50 Jahre nach dem Unfall, der das Zeug zur Katastrophe gehabt hätte, sitzt der einstige Jagdflugzeugpilot an einem sonnigen Nachmittag in einem Restaurant neben der Dresdner Frauenkirche. In dem Traditionslokal, in dem ein historischer Straßenbahnwaggon im Gastraum steht, treffen sich alle zwei Monate ehemalige Angehörige der Luftstreitkräfte der Nationalen Volksarmee (NVA) zum Stammtisch. »Wir halten die Fahne hoch und pflegen die Tradition«, sagt Wolfgang Wehner, der Organisator. Bei den regelmäßigen Runden stehen meist Vorträge auf dem Plan; an diesem Tag geht es um das sowjetische Transportflugzeug Tupolew Tu-154 und das »Open Skies«-Abkommen, einen 2007 geschlossenen Vertrag zur Rüstungskontrolle. »Wir wollen uns ja nicht nur zum Biertrinken treffen«, sagt Wehner, einst Kommandeur im Jagdfliegergeschwader 7 der NVA. Eigentlich aber geht es darum, Kameradschaft zu pflegen, Erinnerungen auszutauschen und, wie Wehner betont, »nicht denen unsere Vergangenheit zu überlassen, die nicht dabei waren«.
Es ist eine Vergangenheit, die wie bei vielen ehemaligen Militärangehörigen von Dienstpflicht und Disziplin geprägt war, aber mehr als bei anderen auch von Abenteuer und Gefahr, was Jagdflieger womöglich stärker zusammenschweißt als ehemalige Panzerfahrer. Ähnliche Fliegerstammtische gibt es deshalb bis heute in Cottbus und Zwickau, in Strausberg bei Berlin und Cämmerswalde im Erzgebirge. Manchmal kommen sie aus allen diesen Orten zusammen, etwa zum Gedenken an den 2019 verstorbenen Sigmund Jähn, der 1978 an Bord eines sowjetischen Raumschiffs als erster DDR-Bürger ins Weltall flog, aber zuvor Jagdflieger war und neben der Herkunft aus dem Vogtland auch ein einschneidendes Erlebnis mit Karl-Heinz Barche teilt: 1960 musste auch Jähn sich aus einer havarierten Maschine retten. Er profitierte dabei als einer der ersten NVA-Piloten von einem Schleudersitz, der erst kurz zuvor in den Jagdflugzeugen eingeführt worden war.
Als Jähn sich 1960 katapultierte, trat Barche gerade seinen Militärdienst an. Sein Werdegang war ein anderer als der seines Stammtisch-Kollegen Wolfgang Wehner. Dieser hatte sich schon als Jugendlicher im Dresdner Pionierpalast mit der Fliegerei beschäftigt und steuerte später Segelflugzeuge. Barche zog es zunächst eigentlich zur Biologe. Weil aber die entsprechende Arbeitsgemeinschaft in seiner Schule keine Mitglieder mehr aufnahm, begann er Modellflugzeuge zu bauen, was dann doch der Beginn einer Laufbahn als Pilot war.
Das größte Modell, das Barche bastelte, »hatte 1,77 Meter Flügelspannweite«, erinnert er sich. Ziemlich genau viermal so breit war die Maschine, mit der er am 23. Juni 1973 auf dem Flugplatz Preschen bei Forst an der polnischen Grenze abhob, wo das Jagdfliegergeschwader 3 stationiert war. Zu der Zeit hatte er eine Ausbildung hinter sich, die sogar länger als die regulären drei Jahre gedauert hatte; er hatte viele Flugstunden absolviert und war auf die MIG-21 umgeschult worden, »damals das Neueste, was es gab«.
Das Flugzeug, mit dem er vom Himmel fiel, war eine MIG-21 MF, eine, wie Barche sagt, »getunte Variante« mit stärkerem Triebwerk und einigen anderen technischen Raffinessen. Sie wurde ab 1972 in den DDR-Luftstreitkräften eingesetzt. Insgesamt 62 Stück wurden beschafft, zehn gingen verloren, davon allein zwei bei dem Unfall, der sich an dem sonnigen Samstag im Juni 1973 etwa zu der Zeit ereignete, als in Dresden die SG Dynamo am letzten Spieltag der DDR-Oberliga beim 2:1 gegen den FC Karl-Marx-Stadt ihren 18. Saisonsieg einfuhr. Die zweite beteiligte Maschine, deren Pilot sich ebenfalls mit dem Schleudersitz gerettet hatte, krachte vier Kilometer vom Stadion entfernt in eine Kleingartenanlage im Stadtteil Gruna, mitten zwischen Wohnhäuser. »Zehn Meter weiter, und sie wäre in Gebäude gestürzt«, sagt Barche. Auch dort gab es wie durch ein Wunder weder Verletzte noch Tote.
Der Flug, der in einer Katastrophe hätte münden können, aber mit dem Totalverlust zweier Maschinen ohne menschliche Opfer laut der NVA-Klassifikation lediglich als »Havarie« eingestuft wurde, begann um 14.40 Uhr als Routineereignis. Absolviert wurde die »Gefechtsübung 170, Abfangen im Paar«, wie es im Untersuchungsbericht heißt: »Eine simple Geschichte«, sagt Barche. Zunächst startete in Preschen eine Maschine, die das Ziel darstellte. Dann hoben zwei Flugzeuge ab, die dieses verfolgen und abfangen sollten. Die zu trainierenden Manöver sollten auf 10 000 Meter Flughöhe absolviert werden; zuvor mussten zwischen 1500 und 4000 sowie 6000 und 8000 Metern Wolkenschichten durchquert werden. Ihren Kurs erhielten die Piloten von einer Jägerleitstelle über Funk vorgegeben. Barche und der Flugzeugführer des zweiten beteiligten Flugzeugs hatten an jenem Tag zuvor schon einen gemeinsamen Trainingsflug absolviert, waren aber, anders als üblich, kein eingespieltes Paar. Nach der ersten Runde hatten sie abgesprochen, beim zweiten Flug die Wolken in sogenannter »geschlossener Gefechtsordnung« zu durchqueren, bei der die eine Maschine der anderen auf einem Kurs folgt, der lediglich zehn Meter seitlich und drei bis fünf Meter tiefer liegt.
Zum Unglück kam es, weil Barches Kompagnon beim Übergang vom Steig- zum Horizontalflug kurz vor Erreichen der Flughöhe von 10 000 Metern am Funkgerät fälschlicherweise den Kanal wechselte und dadurch im Gegensatz zu Barche das Kommando nicht hörte, den Nachbrenner abzuschalten. Dadurch kam er der anderen Maschine extrem nahe. Anstatt sich, wie in solchen Fällen üblich, in Schräglage fallen zu lassen und vom gemeinsamen Kurs auszuscheren, versuchte der Pilot des hinteren Flugzeugs, unter dem vorderen hindurch zu tauchen. Dabei riss sein Seitenruder das Höhenleitwerk von Barches Maschine ab und demolierte deren Tragfläche. Diese fiel wie ein Stein vom Himmel. Barche löste den Schleudersitz aus, ein bei Piloten gefürchtetes, weil alles andere als ungefährliches Manöver: Stimmten Zeitpunkt und Geschwindigkeit nicht, konnten Pilot und Maschine bei höchster Geschwindigkeit kollidieren. Es habe daher trotz regelmäßigen Trainings am Boden eine »natürliche Hemmschwelle zum Einsatz des Rettungsmittels gegeben«, heißt es in dem Buch »11-80, katapultieren sie!« über Flugunfälle in der DDR-Militärluftfahrt. Demnach lösten NVA-Piloten zwischen 1959 und 1990 in mindestens 131 Fällen den Schleudersitz aus. In 23 Fällen überlebten sie das nicht; 108 aber retten sich mit Erfolg. Insgesamt, resümieren die Autoren, habe die Einrichtung viele Leben gerettet.
Das 2004 erschienene Buch illustriert, was für ein gefährliches Geschäft die Jagdfliegerei zumindest in jener Zeit war. »Nach bisher vorliegenden Daten« habe es binnen 34 Jahren in der Militärluftfahrt der DDR 168 Todesopfer gegeben, heißt es darin. Insgesamt seien 270 Flugzeuge zerstört oder schwer beschädigt worden. Laut einer Analyse der Autoren sei die Ursache in der Hälfte der Fälle in »subjektivem Verschulden« zu suchen: Steuer- und Bedienfehler, Orientierungsverlust, Selbstüberschätzung. Dem Verursacher des Unfalls, bei dem auch Barches Maschine abstürzte, attestierte der Abschlussbericht »subjektives Versagen« aus »erzieherisch-disziplinarischen sowie ausbildungsbedingten Faktoren«. Ein Drittel der Unfälle ging auf technisches Versagen zurück: platzende Reifen, der Ausfall von Triebwerken oder Landeklappen. 15 Prozent seien auf »Umwelteinflüsse« zurückzuführen, zu denen auch Vogel- und Blitzschlag gehörte.
Die Verlustquote war hoch; von 1149 Jagdflugzeugen der Typen MIG-15 bis 29, die die DDR beschaffte, verlor sie mit 223 rund jedes Fünfte. Das war aber nicht »systembedingt«, und auch wenn im Buch darauf verwiesen wird, dass Materialbeschaffung und Wartung oft unter finanziellen Engpässen litten, handelte es sich nicht um sozialistischen Schlendrian. »Beim Starfighter waren die Verluste noch viel höher«, sagt Wehner. Von 916 Jagdflugzeugen des Typs F-104 Starfighter, die ab 1962 bei der Luftwaffe der Bundesrepublik in Dienst gestellt wurden, stürzte ein Drittel ab, was 116 Piloten das Leben kostete. Allein Mitte der 1960er Jahre kam es zu 44 Abstürzen binnen 18 Monaten.
Die meisten Abstürze von NVA-Maschinen ereigneten sich in der Nähe von Flugplätzen. Allerdings, heißt es im Buch, seien »aufgrund der dichten Besiedlung und der Enge des Luftraums auch Abstürze in Stadt- und Ortslagen nur schwer vermeidbar« gewesen. Das folgenreichste Unglück ereignete sich am 14. Januar 1975, als eine MIG-21 beim Landeanflug in Cottbus auf einen Neubaublock stürzte. Dabei starben neben dem Piloten auch fünf Zivilisten. Es ist einer der wenigen Vorfälle, über die in der Zeitung berichtet wurde; die meisten anderen, auch der Absturz der zwei Maschinen in Dresden, blieb »geheime Verschlusssache«, weswegen in der Öffentlichkeit Spekulationen und Gerüchte kursierten. Dabei stößt das Thema bis heute auf enormes Interesse. Das 2004 erschienene Buch über die DDR-Militärflugunfälle ist derart begehrt, dass es antiquarisch mittlerweile für über 190 Euro gehandelt wird, zehnmal so viel wie der ursprüngliche Ladenpreis.
Insgesamt forderte die DDR-Jagdfliegerei in mehr als drei Jahrzehnten nur sieben Todesopfer unter Unbeteiligten, was um so mehr wie ein Wunder erscheint, wenn man die näheren Umstände erfährt. Im März 1985 stürzte eine führerlose Maschine ebenfalls in Cottbus in ein Studentenwohnheim, das dabei schwer beschädigt wurde. Es war aber zu dem Zeitpunkt unbewohnt. Im Dezember 1978 landeten Trümmer einer abstürzenden Maschine in einem Kindergarten und einem Chemiefaserwerk in Guben. Und auch der Doppelabsturz im Juni 1973 in der Halbmillionenstadt Dresden führte nur zu Sachschäden und in Barches Fall zu einer Gehirnerschütterung und geprellten Halswirbeln.
Mit der Jagdfliegerei war es damit für den damals 32-Jährigen vorbei. Dass er bis heute mit dem Unfall hadert, liegt allerdings weniger an den gesundheitlichen Folgen, die vergleichsweise glimpflich waren. Verärgert ist Barche über den Umgang mit dem Absturz, den er als höchst unfair empfindet. Vorgesetzte gingen auf Distanz. Der offizielle Bericht der Untersuchung durch das Kommando der Luftstreitkräfte wies ihm eine Mitschuld zu, die »nicht bestand«, wie er betont. In der Folge wurde er im Dienstgrad herabgesetzt und bekam regelwidrig eine monatliche Zulage in dreistelliger Höhe gestrichen. Als er nach weiteren fünf Jahren in einer Hubschraubereinheit seinen Dienst beenden und sich dafür noch einmal medizinisch untersuchen lassen wollte, seien ihm genauso Steine in den Weg gelegt worden wie beim Versuch eines beruflichen Neuanfangs bei der zivilen Flugsicherung. Er sei »enttäuscht, wie in der Arbeiter- und Bauernarmee mit Menschen umgegangen wurde«, sagt Barche. Zum Ende der DDR beantragte er eine erneute Untersuchung des Falls samt Rehabilitierung. Das sei »nicht erforderlich«, beschied man ihm. In der Bundesrepublik wurde die Rente, die er wegen der im Dienst erlittenen Beeinträchtigung erhält, halbiert.
Mit seinen einstigen Gefährten trifft sich Barche bis heute beim Stammtisch. Manchmal kommen Mitglieder der IG Luftfahrt Dresden dazu, darunter einige, die an Entwicklung und Bau der »152« mitgewirkt haben, des legendären und einzigen DDR-Passagierflugzeugs. Dessen Geschichte endete am 4. März 1959 mit dem Absturz einer Maschine bei Dresden. Vier Menschen kamen ums Leben. Es blieb die einzige größere Flugzeugkatastrophe in der Stadt – auch, weil am 23. Juni 1973 zwei Jagdflugzeuge zwar Gurken und Tomaten zerstörten, ihre Piloten und die Stadtbewohner aber ansonsten viel Glück im Unglück hatten.
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