Navid Kermani: »Etwas Größeres als wir«

Navid Kermani sieht im Staunen den Anfang jeder Religion

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Goldene Schrift auf schwarzem Grund: »Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen«. Der Titel des neuen Buches von Navid Kermani zitiert Scheich Abu Said, einen islamischen Mystiker des 11. Jahrhunderts. Ursprünglich ging es um eine überfüllte Moschee, doch für den Leser ist damit Grundsätzliches gemeint: Dein Standort unterliegt keiner Beurteilung; wage einen Schritt nach vorn, und es wird dir guttun. Man soll sich lesend auf einen leuchtenden Bereich der Erfahrung, des Verstehens und des Wissens zubewegen.

Als Sohn iranischer Eltern wurde Navid Kermani 1967 in der vom Protestantismus geprägten Stadt Siegen geboren. Später hat er im Fach Orientalistik promoviert und habilitiert, verließ aber bald die wissenschaftliche Laufbahn und schrieb 25 Bücher, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. So bekam er 2015 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – verdientermaßen, weil sein gesamtes Schaffen auf Verständigung ausgerichtet ist.

In vorliegendem Buch möchte er seiner Tochter, die den katholischen Religionsunterricht besucht, den Islam lehren – weil er das seinem verstorbenen Vater versprechen musste. Seine Tochter ist das »Du«, an das er sich wendet, wobei er sich nicht auf Religion beschränkt. Ihre kritischen Fragen gehen viel weiter, mit ihnen holt er die Leser ab und führt sie in Gegenden, die wir nicht kennen. Das macht den Reiz des Buches aus, in dem man viel über den Islam in einer liberalen, toleranten Auslegung, mit Bezügen zur Mystik der Sufis lernen kann.

Für Kermani besteht »das ganze Elend des heutigen Islams« darin, dass ein Großteil der Gelehrten von dogmatischen Auffassungen ausgehe und »die lebendige und damit veränderliche Beziehung zum Koran« verloren habe. Die Folgen »sehen wir heute in der islamischen Welt, viele Jahrhunderte später: Rückständigkeit, Armut, Unvernunft, Humorlosigkeit, Fundamentalismus, Gewalt, Frauenfeindlichkeit und so weiter«. Was eben so passiert,wenn Religion zu einem Herrschaftsinstrument wird.

In dem Staunen darüber, »dass es etwas Größeres als uns selbst gibt«, liegt für Navid Kermani sowohl der Ursprung jeder Religion wie auch der Wissenschaft. Wobei er Religion nicht mit Theologie verwechselt sehen möchte, weil nicht alles für ihn etwas Persönliches ist, das man über Sprache nur ungenügend ausdrücken könne. Denn »nicht nur der Verstand betet, sondern auch das Gemüt, die Seele, der Leib«.

Mohammed nennt er ebenso wie Jesus ein Kind seiner Zeit – und schert sich nicht darum, wie islamische Schriftgelehrte reagieren könnten: »Der Koran nimmt so viele Geschichten, Motive, Lehren aus der Bibel auf, dass der Islam zu den biblischen Religionen gehört.« Auch auf andere Glaubenssysteme geht er ein, in denen es keinen Schöpfergott gibt. Dort herrscht noch ein zyklisches Denken vor, das durch das Christentum verdrängt wurde. Aber ist das lineare Denken mit seiner Idee des Fortschritts inzwischen nicht auch problematisch geworden?

Erstaunlich, wie Kermani immer wieder von Suren aus dem Koran zu allen möglichen Fragen der Gegenwart kommt, seien es die Kriege in der Welt oder überhaupt das Böse – oder das Opfer, die Gnade, die Würde des Menschen, das Gebot der Gleichheit, die Seele, die christlichen Sakramente (die vom Islam abgelehnt werden), Goethes Orientverständnis bis hin zur Quantentheorie und »Fridays for Future«.

Ohne Religion, so Kermani, »fühlte sich der Mensch verloren, allein schon, wenn er in den Sternenhimmel schaut. Und wie erst, wenn er seinem eigenen Tod ins Auge blickt.« Insofern ist er überzeugt, dass es gläubigen Menschen besser geht und Gesellschaften verarmen, wenn sie das Religiöse verdrängen. Allerdings benötigt »der Körper der Religion … auch Kleidung, damit er im täglichen Leben nicht erfriert oder in der Mittagssonne nicht verbrennt, eine Jacke gegen den Regen der vielen Meinungen, Schuhe zum Gehen über die spitzen Steine des Egoismus, manchmal auch eine Brille zum Sehen hinter die Vorurteile der Gesellschaft«.

»In der Schöpfung und jedem einzelnen Atemzug eine Ordnung zu erkennen, etwas Geformtes also, Gewolltes, Gutes, Sinnvolles, selbst wenn der Sinn nicht immer zu erkennen ist«, kann zweifellos Halt und Trost sein. Ich werde nie vergessen, wie ich in einem Philosophieseminar eine Argumentation darüber schreiben sollte, dass Religion uns abhängig, unfrei macht, und wie ich dabei spürte, dass diese Aussage womöglich zu ideologisch vereinfacht ist. Kermanis Buch zeigt, wie Glaube ein Halt sein kann, um frei zu denken, Ideologie zu erkennen und darüber hinauszugehen.

Darüber wird man wohl streiten können, zumal Religionen auch staatlich instrumentalisiert werden. Andererseits kann Glaube auch helfen, sich von staatlicher Ideologie frei zu machen. Als ob dir »etwas« auf schwierigem Wege den Rücken stärkt.

Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen an Gott. Hanser, 238 S., geb., 22 €.

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