Die vergessenen Vorstädte Spaniens

Sevillas Arbeiterviertel verelenden zusehends. Noch bleiben Revolten wie in Frankreich aus. Aber der Unmut wächst auch hier.

  • Ankreas Boueke, Sevilla
  • Lesedauer: 8 Min.

Mit einem Lächeln bietet ein spanischer Tour-Guide auf der Plaza del Triunfo einer deutschen Familie verschiedene touristische Aktivitäten an. Die Mutter aber reiht sich lieber in die Warteschlange vor dem Haupteingang der imposanten Kathedrale von Sevilla ein. Sie ist begeistert von der Stadt: »Das Essen schmeckt wunderbar. Der Wein ist lecker. Die Menschen sind freundlich, und das Wetter ist super. Gestern haben wir auf der Plaza España einer Flamenco-Gruppe zugeschaut. Ist schon heiß, wie die tanzen.«

Auf einigen Plätzen in der Nähe der Altstadt und der Uferpromenade des Flusses Guadalquivir tauchen ab und zu Musiker mit Gitarren und Trommeln auf. Frauen in traditionellen Kleidern und Lederschuhen mit Nietensohlen tanzen zu Rhythmen andalusischer Volkstänze. Mit leidenschaftlicher Miene und markanter Fußtechnik bewegen sie sich auf zusammenklappbaren Holzplatten.

»Den Rest Sevillas nehmen wir nicht wahr«, räumt die deutsche Besucherin ein. »Wir sind nur in der Altstadt zu Fuß unterwegs. Das geht wunderbar.«

Der Informatiker Juan García ist in dem Arbeiterviertel Bellavista aufgewachsen und lebt noch heute dort. Er kann verstehen, dass sich ausländische Reisende nicht besonders für die Lebensbedingungen in den Vororten der 690 000 Einwohner zählenden Stadt interessieren. »Aber auch die Stadtverwaltung fokussiert fast ausschließlich den Tourismus«, klagt er. »Nichts anderes zählt.«

Der Familienvater sitzt in einem Café neben der Durchgangsstraße von Bellavista, der südlichsten Vorstadt von Sevilla. Die Infrastruktur der Wohnsiedlungen ist seit Jahrzehnten marode, ohne dass sich die zuständigen Stellen angemessen darum kümmern würden. »Die Bewohner vieler Stadtteile fühlen sich ausgeschlossen«, sagt Juan García. »Immer geht es zuerst und fast ausschließlich um wirtschaftliche Interessen. Die einzige große Industrie dieser Stadt ist der Tourismus. Aber viele von uns arbeiten weder im Tourismus, noch haben wir etwas mit dem idyllischen Image zu tun, mit dem sich Sevilla so gerne schmückt.«

Sevilla ist zwar die fünftreichste Großstadt Spaniens, aber die Arbeitslosenrate liegt mit über dreißig Prozent weit über dem nationalen Durchschnitt. Daraus ergibt sich eine enorme Polarisierung zwischen dem Reichtum der Wohlhabenden und der Armut der Ausgegrenzten: »Es fehlt an öffentlichen Dienstleistungen wie zum Beispiel Gesundheitsversorgung oder Kinderbetreuung«, schimpft Juan García. »Viele dieser existentiellen Angebote gibt es nicht oder funktionieren nicht.«

Für Menschen, die in eine Notlage geraten, ist es in Sevilla sehr schwierig, längere Zeit ohne Hilfe zu überstehen. Einrichtungen wie das Hilfswerk Caritas organisieren Tafeln, um das dringendste Problem der Ernährung zu lösen. Aber die Zahl der Bedürftigen wird immer größer, weil es öfters zu Zwangsräumungen kommt. Familien besetzen immer häufiger illegal Wohnungen, um nicht auf der Straße zu landen.

Eigentlich sollten Menschen in Notsituationen von den Sozialdiensten der Stadt unterstützt werden. Doch nachdem Spanien seit dem Jahr 2000 vier Wirtschaftskrisen erlebt hat, ist das Sozialsystem kollabiert. Es gibt viel zu viele Bedürftige. Darunter leiden die Schwächsten und Verletzlichsten am meisten.

Als vor fünfzehn Jahren die Immobilienblase in Spanien platzte, sind Hunderte Investoren pleite gegangen und haben viele Baufirmen mit in den wirtschaftlichen Ruin gezogen. Zurück blieben halbfertige und unbewohnte Geistersiedlungen. Noch heute stehen in Spanien dreieinhalb Millionen Wohnungen leer. Trotzdem muss die Caritas Zehntausenden Obdachlosen helfen.

Vernachlässigung der Vorstädte, desolater Zustand der Infrastruktur, hohe Kriminalität und ein Gefühl der Bewohner, abgehängt zu sein – die Situation ähnelt der in Frankreich, wo sich Wut und Verzweiflung seit Tagen auf den Straßen austoben. Längst formiert sich auch in Spanien Widerstand gegen die schwer zu ertragenden Lebensbedingungen in den Vorstädten. Juan García hat die Nachbarschaftsplattform Barrios Hartos mit gegründet. »Der Name bedeutet: ›Stadtteile, die die Schnauze voll haben‹«, erläutert der charismatische Wortführer. »Er soll deutlich machen, dass wir nicht nur einfach verärgert sind. Wir halten es nicht mehr aus und werden etwas tun.«

Das spanische Wort »harto« beschreibt eine Mischung aus Enttäuschung, Empörung und dem Willen, sich aufzulehnen. In Andalusien bedeutet »harto«, dass jemand seine Wut nicht mehr aushalten kann. Die sozioökonomische Situation in vielen Außenbezirken von Sevilla ist so miserabel, dass die städtischen Institutionen dringend handeln müssten. Wenn sie wollten, könnten sie den Menschen akzeptable Lebensbedingungen ermöglichen, glaubt Juan García: »Doch ein Leben in Würde gilt heute nicht mehr als Menschenrecht. Die Mieten und Hypotheken steigen so sehr, dass Bewohner der Arbeitersiedlungen mit einem üblichen Haushaltseinkommen von 900, 1000 Euro nicht mehr genug zum Überleben haben. Wenn du 500, 600 Euro Miete für eine Wohnung mit zwei Zimmern zahlen musst, wie sollst du dann die anderen Rechnungen deiner Familie bezahlen? Wie sollst du so leben?«

Barrios Hartos wurde vor fünf Jahren gegründet. »Wir wollen die Anwohner motivieren, gemeinsam für ihre Rechte zu kämpfen«, erklärt er. »Sie sollen erkennen, dass ihre Probleme keine individuellen sind.«

Die zunehmende Hitze, von der alle Sevillanos betroffen sind, ist ein Beispiel für solche kollektiven Probleme. Noch liegt die jährliche Durchschnittstemperatur im Stadtzentrum bei knapp unter 20 Grad. Aber an vielen Tagen wird es deutlich heißer. So ist Strom für Klimaanlagen gerade für ältere Menschen eine Frage des Überlebens. Juan García erinnert daran, dass während der vergangenen Hitzewellen Dutzende Menschen gestorben sind: »Bei Temperaturen von 45 Grad kannst du ohne Strom nicht leben.«

Trotzdem ist der öffentliche Raum nur spärlich bepflanzt. Auf vielen Plätzen gibt es fast keine Bäume, die Schatten spenden. Zumindest aber gibt es öffentliche Wasserspender. Juan García öffnet ein Ventil, wäscht sich sein Gesicht und trinkt ein paar Schlücke. »Wir sind jetzt auf dem Weg zu Viky. Ihre kranke Mutter hat in diesem Sommer besonders große Probleme, weil der Strom so oft ausfällt.«

Viky Repillo war dabei, als Barrios Hartos gegründet wurde. Damals gab es besonders schlimme Probleme mit der Kriminalität. »Es war beängstigend«, erinnert sie sich. »Als wir erkannten, dass die Menschen in anderen Stadtteilen genauso litten, haben wir Kontakt gesucht. Gemeinsam beschlossen wir, als erstes ein Thema zu behandeln, das uns alle betrifft: die Stromausfälle. Ständig sitzen hunderte Familien lange im Dunkeln, ohne dass sich jemand darum kümmert.«

Die resolute Frau kennt viele Anekdoten aus der Nachbarschaft. Vor kurzem ist ein Rentner wegen eines Stromausfalls gestorben. Er war noch keine siebzig Jahre alt. Er litt an einer chronischen Lungenerkrankung und musste im Schlaf eine Sauerstoffmaske tragen. Nacht für Nacht achtete seine Frau darauf, dass das Atemgerät ordentlich funktionierte. Doch einmal bemerkte sie nicht, dass der Strom mal wieder ausgefallen war. Als sie aufwachte, war ihr Mann tot.

»Diese Frau lebt jetzt mit einem Schuldgefühl, das sie nicht haben sollte«, fügt Juan García hinzu. »Sie konnte ja nichts dafür, dass die Maschine nicht funktioniert hat.«

Die Mitglieder von Barrios Hartos haben öffentlich gemacht, dass im Stadtgebiet von Sevilla mehrere Stationen für Transformatoren seit Jahrzehnten nicht von Grund auf überholt worden sind. Einige Umspann-Anlagen sind seit achtzig Jahren nicht ausgetauscht worden. In manchen Fällen sind noch heute die allerersten Anlagen in Betrieb.

Juan García ist überzeugt davon, dass die Situation heute nicht so schlimm wäre, wenn das Elektrizitätswerk vor zwanzig Jahren nicht privatisiert worden wäre: »Seither geht es vor allem um die Rendite des Firmenbesitzers. In diesem Fall ist das der Konzern Enel.« Es sei nun mal so, dass die Stadtviertel der Arbeiter weniger Elektrizität verbrauchten als andere Gebiete, erklärt er. »Deshalb wird hier nicht in die Infrastruktur investiert, und die Geräte wurden zwanzig Jahre lang nicht gewartet. Dem Unternehmen geht es nicht um ein Menschenrecht, sondern um ein Handelsgut. Im Stadtzentrum hingegen kommt es nie zu langen Stromausfällen, weil die Klimaanlagen der Hotelzimmer funktionieren müssen.«

Wer Sevilla als Tourist besucht, bekommt den Eindruck einer schönen, gepflegten Stadt mit bewässerten Grünflächen und hübschen Bauten. »Aber das ist nicht das wirkliche Sevilla«, sagt Juan García. »Wir sprechen von zwei Sevillas: Die Stadt, für die geworben wird, die einen Geldfluss aus dem Ausland einbringen soll, und die andere Stadt, in der die Mehrheit der Menschen lebt.«

In den meisten Vorstädten gibt es keine kulturellen Angebote. Eine Flamenco-Show in der Altstadt kostet etwa dreißig Euro. »Wer kann das bezahlen? Die Leute hier jedenfalls nicht. Aber in ihren eigenen Wohngebieten gibt es nie sowas wie eine Theateraufführung oder einen kulturellen Tanz, nichts. Die Wahrheit Sevillas ist, dass die Menschen leiden. Rund einem Drittel der Bevölkerung droht die soziale Ausgrenzung.«

Viky Repillo möchte ihren Teil dazu beitragen, dass sich die Situation verbessert. Sie hat schon an vielen Protestveranstaltungen teilgenommen. »Als Mitglied der Plattform Barrios Hartos versuche ich, etwas gegen die Ungleichheit zu tun. Meine Kinder, meine Nachbarinnen, wir alle haben dieselben Rechte, egal, ob wir hier wohnen, im südlichsten Zipfel von Sevilla, oder im Zentrum. Die Lebensbedingungen sollten zumindest ähnlich sein.«

Spanien – Die vergessenen Vorstädte Spaniens

Tatsächlich aber sind die Zukunftsaussichten der Jugend in den Arbeitervierteln düster. Wer bleibt, hat oft schon resigniert. Die Kriminalität nimmt genauso zu wie der Drogenkonsum und der Alkoholismus. Junge Leute mit einer guten Ausbildung gehen in andere Städte: nach Madrid, nach Barcelona, nach Valencia, oder in ein anderes Land. »All diese Enttäuschungen haben uns dazu motiviert, uns zusammenzuschließen«, sagt Viky Repillo. »Wir haben erkannt: Entweder wir arbeiten gemeinsam oder wir erreichen gar nichts.«

Zuletzt haben sich Dutzende Aktivisten zwanzig Tage lang im örtlichen Kulturzentrum eingeschlossen, um politischen Druck auszuüben. Viky Repillo war dabei. »Wir haben den Bau einer Sportanlage durchgesetzt. Auch das Kulturzentrum selbst war Ergebnis einer Protestaktion. Aber manchmal wirst du müde und fragst dich: ›Warum kostet es soviel Kraft, öffentliche Dienstleistungen zu bekommen?‹ Es ist doch offensichtlich, dass die Menschen sie dringend brauchen.«

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