- Politik
- Israel-Palästina-Konflikt
Lang geplante Gewaltaktion
Israel will die Macht militanter palästinensischer Gruppen zurechtstutzen
Der Krieg kam mitten in der Nacht zu den Einwohner*innen von Dschenin. Mit lautem Donnern schlugen in kurzem Abstand Raketen in der Stadt im Norden des Westjordanlands ein; der Lärm sei überall zu hören gewesen, berichten einige Bewohner*innen. Kurz darauf rückte Israels Militär mit mindestens 100 Militärfahrzeugen und hunderten von Soldat*innen ein. Der Strom fiel fast in der gesamten Stadt aus. Straßenkämpfe begannen, während das Militär Häuser durchsuchte. Bis zum Montagnachmittag waren mindestens acht Palästinenser*innen getötet und nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums Hunderte verletzt worden.
Laut israelischem Verteidigungsministerium wurden Waffenlager und Infrastruktur von militanten Organisationen wie dem Islamischen Dschihad und der Hamas zerstört. 20 Personen, die für Anschläge auf Israel*innen verantwortlich sein sollen, seien festgenommen worden. Es war keine spontane Operation. Fast ein Jahr lang sei sie geplant worden, berichten israelische Medien. Denn Dschenin gilt als Hochburg militanter Gruppierungen, die nicht nur immer wieder Anschläge auf Israel*innen verüben, sondern auch nach mehr Einfluss im Westjordanland streben. Dort regiert noch Präsident Mahmud Abbas, der der Fatah-Fraktion angehört. Beide sind mittlerweile ausgesprochen unpopulär – ein Nährboden für radikale Gruppierungen.
Dass sich etwas zusammenbraut, war schon im vergangenen Jahr deutlich spürbar gewesen. Hamas und Islamischer Dschihad, die sich früher vor allem im Untergrund bewegten, wurden im Westjordanland sichtbarer. Doch der Start der Militäroperation wurde vom bis Dezember vergangenen Jahres amtierenden Regierungschef Jair Lapid zweimal verschoben, ist aus seinem Team zu hören: Man habe befürchtet, damit die Lage noch weiter zu eskalieren. Ein drittes Mal drückte dann Lapids Nachfolger Benjamin Netanjahu auf Pause, wegen des Ramadan.
Nun wurde der Einsatzbefehl in einer ausgesprochen schwierigen Situation gegeben. Seit Jahresbeginn wurden bei Anschlägen oder Kämpfen 141 Palästinenser*innen und 24 Israel*innen getötet, so viele wie schon seit gut zehn Jahren nicht mehr. Oft werden Palästinenser*innen bei Militäroperationen gegen militante Organisationen getötet. Doch dabei werden nun zivile Opfer durchaus in Kauf genommen. Als Israels Militär vor zwei Wochen in Dschenin losschlug und mit einem Drohnenangriff einen Anführer des Islamischen Dschihad tötete, nahm man auch den Tod seiner Ehefrau und Kinder in Kauf.
Gleichzeitig ist die Stimmung in der palästinensischen Bevölkerung aufgeheizt wie schon seit der zweiten Intifada nicht mehr. Denn Israels rechtsnationalistische Regierung macht Dampf beim Siedlungsbau: Insgesamt 13 000 neue Wohneinheiten wurden seit Jahresbeginn geplant und genehmigt. Mehr als je zuvor in so kurzer Zeit. Dabei stört man sich auch nicht mehr am Druck von ausländischen Regierungen, nimmt in Kauf, dass auch enge Partner wie die Vereinigten Staaten kräftig verprellt werden. Die Wählerschaft des rechtsradikalen Wahlbündnisses »Religiöser Zionismus« freut das natürlich immens.
Doch in den Umfragen spiegelt sich das nicht wider. Dort sind die Rechtsradikalen von 14 auf 10 Parlamentssitze abgesackt (von insgesamt 120). Denn im Wahlkampf hatte Spitzenkandidat Itamar Ben Gvir mehr Sicherheit versprochen: weniger Anschläge und Kriminalität, weniger Gewalt. Nun ist er Minister für nationale Sicherheit und hat das genaue Gegenteil erreicht. Was nicht nur mit seiner völligen Unerfahrenheit in der Sicherheitspolitik zu tun hat. Er stachelt auch selbst an: So rief er Jugendliche dazu auf, Hügel im Westjordanland zu besetzen, schweigt, wenn Hunderte von Siedler*innen palästinensische Ortschaften verwüsten.
Die palästinensische Regierung hat dem überhaupt nichts entgegenzusetzen. In der vergangenen Woche berichtete der israelische Sender KAN, in Ramallah werde über die Bankrotterklärung gesprochen; ein Sprecher des palästinensischen Finanzministeriums bestätigt das. Die ausländischen Hilfen gingen ständig zurück und die Steuereinnahmen reichten nicht aus. Die finanzielle Situation hat ebenfalls Auswirkungen auf die Sicherheitslage. Denn viele Sicherheitskräfte haben gekündigt; die palästinensische Polizei kann ihre Aufgaben kaum noch erfüllen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.