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»Schwarzbuch« Vonovia: Leipziger Mieter wehren sich
In Leipzig wehren sich Mieter gemeinsam gegen die Geschäftspraktiken des Immobilienkonzerns Vonovia
In den Schönefelder Höfen in Leipzig liegen Freude und Frust nahe beieinander. »Ein wunderschönes Viertel«, sagt André Schmidt über das Quartier, in dem grüne Innenhöfe von Häusern aus der Gründerzeit umschlossen sind und die Mieterschaft bunt gemischt ist: Studenten, Rentner, Menschen aus Syrien oder der Ukraine. Der Soziologe, der an der Universität in Leipzig eine halbe Stelle hat, bezog 2021 eine bezahlbare Zweiraumwohnung, »meine erste eigene«, sagt er stolz. Noch wohler würde er sich fühlen, wenn er die Badewanne nutzen oder länger als einen Augenblick unter der Dusche stehen könnte. Darauf aber verzichtet er seit Monaten, sagt er: »aus gesundheitlichen Gründen«.
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Das Problem: Im Warmwasser seiner und etlicher benachbarter Wohnungen wurden Legionellen festgestellt. Der zulässige Grenzwert liegt bei 100 »koloniebildenden Einheiten«, in seiner Wohnung waren es 2000. Schmidt machte sich kundig. Legionellen, so lernte er, seien Bakterien, die über Wasserdampf eingeatmet werden und gefährliche Krankheiten auslösen können. Bei Überschreitung der Grenzwerte verpflichte das Gesundheitsamt die Vermieter, dagegen vorzugehen. Das geschah auch: Duschkopf und Wasserhahn wurden ausgetauscht. Er habe sich »ziemlich verarscht« gefühlt, sagt Schmidt – offenbar zu Recht: Bei der nächsten Messung lag der Wert bei 4500. Er begann, Beschwerdebriefe abzuschicken, forderte Mietminderung, kürzte, als diese verwehrt wurde, den Betrag eigenmächtig und wird seither mit Mahnungen überzogen. Mittlerweile fällt Schmidt ein hartes Urteil über den Vermieter: Dieser verhalte sich »rücksichtslos und macht Profite auf dem Rücken meiner Gesundheit«.
Der Vorwurf findet sich in einer Publikation, die am Mittwoch vorgestellt wird: einem »Schwarzbuch Wohnen bei Vonovia«. Darin schildern Schmidt und rund drei Dutzend weitere Mieter »Leipziger Erfahrungen mit dem größten Wohnungskonzern Europas«, wie es im Untertitel der 68-seitigen Publikation heißt. Schon das Inhaltsverzeichnis lässt ahnen, dass es sich um mindestens ärgerliche, in vielen Fällen skandalöse Erlebnisse handelt. »Nichts funktioniert hier richtig«, ist ein Kapitel überschrieben, »Im Verklagen sind sie gut« ein anderes, »Nervlich am Ende« einem drittes. Von »Tricks mit den Nebenkosten« ist die Rede, vom »Abzockposten Objektbetreuung«. Ein Bewohner der Schönefelder Höfe resümiert in seinem Bericht: »Mit Vonovia wurde alles schlechter.«
Vonovia kam Anfang 2018 in die Höfe. Das Unternehmen übernahm das Quartier, das Anfang des 20. Jahrhunderts von Deutschlands damals größter Baugenossenschaft für die Beschäftigten des nahe gelegenen Postbahnhofs errichtet worden war und in dem heute 3000 Mieter in 1600 Wohnungen leben, von einem österreichischen Privatvermieter. Ursula Dornbusch, die seit 1973 im Viertel lebt und ihre Dreiraumwohnung inzwischen allein bewohnt, hatte schon zuvor einiges gehört und gelesen über die Praktiken des Konzerns, dem in Deutschland und anderen europäischen Ländern insgesamt 565 000 Wohnungen gehören. »Mir schwante nichts Gutes«, sagt die bald 70-jährige ehemalige Bauzeichnerin. Vielerorts gibt es Klagen von Mietern über undurchsichtige Abrechnung von Betriebskosten und den Verdacht, dass mit Tricks gearbeitet wird, um diese in die Höhe zu treiben. Vielerorts beschweren sich Bewohner über schamlose Mieterhöhungen, über Mängel bei der Bewirtschaftung der Häuser, bei Sauberkeit und Hygiene. Vielerorts wird der Verdacht laut, dass dem Unternehmen mit einem aktuellen Börsenwert von 14,8 Milliarden Euro die Rendite der Aktionäre wichtiger ist als die Zufriedenheit der Menschen, die in den Wohnungen leben. »Was mir bei Vonovia grundsätzlich fehlt«, heißt es in einem Beitrag im Schwarzbuch, »ist das Interesse am Mieter«.
Als die Probleme auch in den Schönefelder Höfen begannen, fingen viele an, sich zu wehren. Sie ließen sich beim Mieterverein beraten, nahmen sich Anwälte, zogen vor Gericht – zunächst allerdings allein. »Das Mietrecht ist leider nicht nur sehr undurchsichtig, sondern auch extrem individualisiert«, sagt André Schmidt. Manche versuchten, die komplexen Abrechnungen der Nebenkosten aufzudröseln und mit akribisch notierten eigenen Beobachtungen zu vergleichen. Dabei stießen sie auf viele Ungereimtheiten. Einem Mieter sollen beispielsweise über 200 Euro für die Pflege von Grünanlagen in Rechnung gestellt worden sein, obwohl der Hof des Hauses, in dem er wohnt, gepflastert ist. Einem »Objektbetreuer« genannten Hauswart wurden so viele Leistungen zugeordnet, dass er diese nach Ansicht der Mieter in seiner Arbeitszeit unmöglich bewältigt haben kann. Vieles lässt sich freilich nur schwer nachprüfen, unter anderem, weil Vonovia viele Leistungen durch eigene Tochterfirmen erledigen lässt, wofür es keine detaillierten Rechnungen gibt. Um sich durch die Materie zu ackern, brauche es »Zeit, Zeit und nochmal Zeit«, sagt Ursula Dornbusch; zudem koste sie die Auseinandersetzung mit dem Vermieter »viele Nerven und viel Geld«. Allerdings habe sie keine Lust, sich von diesem wegen dessen »Gier nach Gewinn wie eine Zitrone auspressen zu lassen«. Unter Anspielung auf ihren Namen sagt sie: »Ich habe Stacheln. Ich wehre mich.«
Dornbusch nimmt die Auseinandersetzung freilich nicht allein auf, sondern engagiert sich gemeinsam mit Nachbarn in einer Initiative namens »Mietergemeinschaft Schönefelder Höfe«. Sie hat sich im Jahr 2019 gegründet. Udo Schwarz hat eines der Plakate aufbewahrt, mit denen damals für einen Sonntag im Juli zum »Grill- und Gründungsfest« eingeladen wurde. Man setze sich für bezahlbare Mieten und gegen »profitgetriebene Wohnungsunternehmen« ein, ist darauf zu lesen. Eine Zeichnung zeigt Menschen, die mit Plakaten wie »Mieten runter« neben einem Rost voller Bratwürste stehen. Daneben ein Schild: »Vonovia grillen«.
Schwarz setzte sich schon früher für die Belange von Mietern ein. Er lebt seit mehr als einem halben Jahrhundert im Quartier; gemeinsam mit seiner Frau bewohnt er eine Wohnung mit 80 Quadratmetern und Balkon, deren Miete zu ihrer eher bescheidenen Rente passt. Ein Umzug ist deshalb nicht drin: »Wir kleben hier«, sagt er. Als die Wohnungen noch einer der in der DDR verbreiteten Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften (AWG) gehörten, engagierte er sich in deren Mieterbeirat. Als die AWG an einen Privaten verkauft werden sollte, suchte er das mit anderen zusammen zu verhindern. Gegen die Geschäftspraktiken von Vonovia aber hätten er und viele Nachbarn sich aus eigenem Antrieb wohl nicht gewehrt. »Viele von uns Älteren haben nicht mehr so viel Kraft und Energie«, sagt er: »Ohne die jungen Menschen hätten wir es nicht geschafft.«
Die »jungen Menschen« sind Aktivisten aus Initiativen wie »Recht auf Stadt« oder der Klimabewegung, die zuvor anderswo in Leipzig aktiv gewesen waren; zumeist in Stadtteilen, in denen zivilgesellschaftliches Engagement bereits eine große Rolle spielte. Allerdings sei bei ihnen die Erkenntnis gewachsen, dass »wir nicht nur in unseren eigenen Milieus bleiben können, wenn wir als soziale Bewegung vorankommen wollen«, sagt Peter Bescherer. Der Soziologe lehrt an der Universität Jena, forscht beispielsweise über Rechtspopulismus in Großstädten und weiß, welche politischen Effekte Frust und Gefühle von Machtlosigkeit haben können. Er und seine Mitstreiter entschieden sich, zum Widerstand gegen das Geschäftsgebaren von Vonovia zu ermutigen. Der Konzern stehe »exemplarisch« für profitorientierte Politik und »Missbehandlung« von Mietern: »Sie setzen Maßstäbe, an denen sich andere orientieren.«
Die Aktivisten riefen freilich in den Schönefelder Höfen nicht zu plakativen Aktionen oder Demonstrationen: »Damit erreicht man nur die, die eh schon überzeugt sind«, sagt Bescherer. Vielmehr habe man das Gespräch an den Haustüren gesucht, sich die Probleme erklären lassen, gemeinsam nach Lösungen gesucht. Die neu gegründete Mietergemeinschaft lud zu monatlichen Versammlungen ein, auf denen viele zunächst einmal Dampf abließen und ihre Wut artikulierten, bevor nüchterner über Möglichkeiten des gemeinschaftlichen Widerstands beraten wurde. Später kam eine Sprechstunde dazu, in der Beratung im Einzelfall angeboten wird. »Es geht um persönliche Ansprache, den Aufbau von Beziehungen und darum, gemeinsam einen Konflikt zu führen«, sagt Bescherer, der auch von »Organizing« spricht, einer Strategie, wie sie bisher eher Gewerkschaften praktizieren.
In den Schönefelder Höfen stieß sie auf Interesse. In der Mietergemeinschaft seien regelmäßig 20 Menschen aktiv, sagt André Schmidt, zu »Stoßzeiten« kurz nach Versand der Betriebskostenabrechnungen seien die Versammlungen deutlich voller. Die Hoffnungen, die in die Initiative gesetzt werden, unterscheiden sich durchaus. Ursula Dornbusch sagt, ihr gehe es »in erster Linie ums Geld«. Sie schätzt den Austausch über erfolgversprechende Strategien des Widerspruchs: »Man erfährt, wie viel sich andere zurückholen und wie sie das anstellen.« Schmidt hofft dagegen, Probleme auch grundsätzlicher angehen zu können: »Wir müssen gemeinsam das System als solches verändern.« Voriges Jahr artikulierten 100 Mieter einen ersten »kollektiven Einspruch« gegen die Jahresabrechnung. Zudem wird in den Versammlungen auch darüber gesprochen, was sich in der Wohnungspolitik grundsätzlich ändern müsste. »Das Konzept einer Vergesellschaftung erscheint uns sehr sinnvoll«, sagt er, merkt aber auch an, dass es zu solchen Punkten durchaus Streit gebe.
Darüber, was die Mietergemeinschaft in den vier Jahren ihres Bestehens beim Konzern bewirkt hat, machen sich die dort Aktiven wenig Illusionen. »Wir glauben nicht, dass unser Engagement großen Eindruck bei Vonovia hinterlässt«, sagt Bescherer. Zwar hat das Unternehmen in den Schönefelder Höfen ein »Mieterservicebüro« eröffnet. Man sei für die »Anregungen der Bewohnerinnen und Bewohner immer offen«, heißt es auf der Internetseite des Unternehmens. Auch gibt es regelmäßig Hofkonzerte und andere gesellige Aktivitäten im Viertel; einen Nachbarschaftsladen mit Malzirkel und Tanzkursen führt Vonovia fort. »Unsere Initiative ist in den Räumen allerdings nicht mehr erwünscht«, sagt André Schmidt. Und Peter Bescherer resümiert, an der »grundsätzlichen Praxis der Bewirtschaftung der Wohnungen« habe sich bisher nichts geändert.
Bewirkt hat die Initiative aber bei nicht wenigen Mietern das Gefühl, dem Geschäftsgebaren des Unternehmens nicht wehrlos ausgeliefert zu sein. »Sie wissen jetzt, dass sie es mit uns nicht einfach machen können«, sagt Ursula Dornbusch. Das wirkt auch andernorts als Vorbild. Im Leipziger Stadtteil Anger-Crottendorf hat Vonovia einst ebenfalls gut 1000 Wohnungen gekauft. Auch dort hat sich vor zwei Jahren eine Mietergemeinschaft gegründet. Sie lädt einmal im Monat zu Versammlungen ein. An diesem Montag haben sich im Café Lux knapp ein Dutzend Menschen getroffen. Einziger Punkt auf der Tagesordnung: die Vorbereitung der Kundgebung, bei der an diesem Mittwoch das »Schwarzbuch« vorgestellt werden soll. Es soll eine Kundgebung vor dem Rathaus geben; die Stadträte sollen die Publikation bei der letzten Sitzung vor der Sommerpause in die Hand gedrückt bekommen, »als Urlaubslektüre«, wie es heißt. Geklärt werden muss auch, wer einzelne Passagen des Schwarzbuchs auf der Kundgebung vorträgt. Elke Ketterer zögert zunächst, willigt dann aber ein. Sie ist vor anderthalb Jahren aus dem Schwarzwald nach Leipzig gezogen, in eine Wohnung, »um die mich zunächst alle beneideten«. Dann gab es Probleme mit einer kalten Heizung, Schimmel, dilettantischer Wartung und empörenden Umgangsformen der Vonovia-Mitarbeiter. »Jeder denkt zunächst, das sind Einzelfälle«, sagt sie. Wer das »Schwarzbuch« liest, wird im Gefühl bestärkt, »dass da ein System dahintersteckt«. Dagegen, sagt Ketterer, »kommt man nur gemeinsam weiter«. Im Herbst, sagt Bescherer, wolle man mit dem Buch auf Tour durch die Stadt gehen. Schließlich besitzt Vonovia in Leipzig insgesamt 14 200 Wohnungen. Vermutlich leben dort noch viele Mieter, die das Gefühl haben, wie Zitronen ausgepresst zu werden – und, anders als Ursula Dornbusch, ihre Stacheln noch nicht entdeckten.
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